München - Jede fünfte Frau ist neuen Studien zufolge im Laufe ihres meist jugendlichen Lebens Opfer sexueller Gewalt geworden. "Das ist ein deprimierendes, überraschendes Ergebnis", so der Münchner Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), Prof. Günther Kindermann. Der Gynäkologe stellte beim 53. DGGG-Kongress zwei neue Studien vor, die mit mehr als 4.300 Fällen die weltweit bisher umfangreichsten Untersuchungen zu dem Thema "Sexuelle Gewalt an Frauen" sind. An der viertägigen Tagung nehmen rund 3.000 Frauenärzte und Wissenschafter teil. Das Bundesfamilienministerium war bisher von Schätzungen ausgegangen, nach denen jede siebente Frau - also rund 14 Prozent - Opfer von Vergewaltigung oder sexueller Nötigung geworden war. Einer von Kindermann präsentierten Studie der Universität München mit mehr als 1.000 Befragten zufolge antworteten gut 19 Prozent der Frauen mit "ja" auf die Frage, ob sie jemals zu sexuellen Aktivitäten gezwungen wurden, die sie nicht durchführen wollten. Der DGGG- Präsident stellte zusätzlich eine Berliner Untersuchung vor, für die über Jahre hinweg Daten von rund 3.300 Opfern von Sexualdelikten ausgewertet wurden. Peiniger meist bekannt Beiden Studien zufolge waren in den allermeisten Fällen Minderjährige betroffen die ihre Peiniger kannten. Sie kamen aus der Familie oder dem näheren sozialen Umkreis. Die Mehrheit der Mädchen und Frauen wurde in der eigenen oder in der Wohnung des Peinigers missbraucht und hatte zuvor noch nie Geschlechtsverkehr gehabt, weit mehr als ein Drittel wurde mehrfach Opfer von sexueller Gewalt. Das Fehlen von körperlichen Verletzungen lasse nicht darauf schließen, dass Mädchen oder Frauen nicht missbraucht wurden. Nur etwa zehn Prozent trugen laut der Berliner Untersuchung körperliche Verletzungen davon. Nach der Berliner Untersuchung waren mehr als die Hälfte der Betroffenen jünger als 16 Jahre. Die größte Gruppe der Missbrauchten war die der elf- bis 15-Jährigen, das jüngste Opfer war erst sechs Monate alt. Nach der Münchner Befragung wurden ein Fünftel der Geschädigten im Alter bis zwölf Jahre missbraucht. Hilfsangebote Kindermann kritisierte Frauenärzte und die Öffentlichkeit heftig. Gynäkologen thematisierten das Problem der sexuellen Gewalt viel zu wenig, die Gesellschaft verschweige es beinahe völlig. Frauenärzte und Ärztinnen sollten sich als Anlaufstellen für die Opfer verstehen und das Gespräch suchen. Kindermann forderte auch eine Koordination der Hilfsangebote zwischen Polizei, Gerichtsmedizin und GynäkologInnen. Die Opfer blieben sich nach der Tat häufig selber überlassen. Die angezeigten Verbrechen machten nur "die Spitze des Eisbergs" aus, sagte Kindermann. Die überwältigende Mehrheit der Opfer vertraue sich nicht der Polizei an. Grund sei etwa, beschämende Aussagen vor Gericht vermeiden zu wollen. Bei einer Bestrafung des häufig aus dem näheren Umkreis stammenden Täter hätten die Geschädigten zudem Angst, die eigenen Sozialstrukturen zu zerstören. Kein Privileg "Wenn man sexuelle Gewalt gegen Frauen aber immer weiter als ein Jahrhunderte altes Privileg der Männer toleriert, wird sich nie etwas ändern", sagte Kindermann. "Ich richte einen flammenden Appell an mein Fach, das Thema sexuelle Gewalt offensiv aufzugreifen". (APA/pd)