Die Gedenkstätte für die verunglückten Spieler des AC Torino bei der Basilica di Superga.

Foto: derStandard.at

"La Pista": die Teststrecke am Dach des ehemaligen FIAT-Werks Lingotto, inklusive Steilkurve, Hubschrauberlandeplatz und spektakulärem Konferenzraum "Bolla".

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Turin - Die Fußballfans im West-Piemont sind nachtragend. Als David Trezeguet in der Nachspielzeit des EM-Finales 2000 gegen Italien zum Golden Goal traf, flogen Anhänger der französischen Nationalmannschaft aus, um den Titelgewinn hupend und Fahnen schwenkend in italienischen Grenzdörfern zu zelebrieren. Als im Endspiel der diesjährigen Weltmeisterschaft die Squadra den Cup stemmte, machten sich die Gedemütigten von damals zur Retourkutsche auf. Ob urbane Legende oder nicht, so erzählt man es sich mit glaubwürdiger Miene beim Aperitif in Turin.

Die Hauptstadt des Piemonts ist 2006 quasi der Wasserkopf der Sportwelt: Olympische Spiele, Titelgewinn und -verlust in der Serie A, Korruptions-Skandal, zum Drüberstreuen WM-Feierlichkeiten. Weitgehend verwischt sind bereits die Spuren der Winterspiele: „Passion lives here“, aber nur mehr als Schriftzug auf mancher Absperrplane an einer der zahlreichen Baustellen. In den überdimensionierten Sportstätten ist die Leidenschaft erloschen, mit dem Ende der Spiele haben sie massiv an Berechtigung eingebüßt. Vielleicht teilen sie in Zukunft das Schicksal des ehemaligen FIAT-Werks Lingotto. Dort wo einst 40.000 Arbeiter an Automobilen schraubten, kann man jetzt Zimmer reservieren und dem Shopping-Spaß frönen. Die Teststrecke auf dem Dach - inklusive Steilkurven - dient heute als Spazierzone mit Blick auf die Alpen.

Der Skandal rund um die kriminellen Machenschaften von Juventus Turin wird effektiv verdrängt: „Campione del mondo“, so und nicht anders steht es immer wieder an die Wände geschmiert. Die italienische Fahne ziert etliche Balkone, man ist Weltmeister und nicht hinterhältiger Betrüger. Und man hat Exit-Strategien an der Hand: Im Restaurant „Urbani“ verkehren gewöhnlich die Juve-Granden, nun hängt ein Trikot des Aufsteigers AC Torino an der Wand, darüber ein demonstratives „Serie A!“ in dicken Lettern.

Den AC hatten sie in Turin ohnehin immer lieber, er schrieb auch eines der größten Dramen der Stadt. Am 4. Mai 1949 kam die gesamte Mannschaft bei einem Flugzeugzeugabsturz ums Leben. Die Spieler waren auf dem Rückflug von Lissabon, die Maschine zerschellte ausgerechnet an der Rückwand der am Berg thronenden Basilica di Superga. Die Gedenkstätte an der Absturzstelle wird seither täglich und fürsorglich herausgeputzt.

Ja, die Turiner haben sich trotz all der Turbulenzen ein großes Fußballherz bewahrt. In der Bibliothek des Lingotto kann man sich davon überzeugen, zwischen all den großen Klassikern findet man das wichtigste aller ballestrischen Werke überhaupt: „Prohaska - Mein Leben“. Echte Feinschmecker eben.(Philip Bauer)