"Ohne entsprechenden Rechtsschutz kann ich wirklich niemandem guten Gewissens einen Medizinprozess empfehlen." Walter Dohr

"Die Angst der Ärzte vor Rechtsstreitigkeiten ist gewachsen, weil ihnen heute massive Konsequenzen drohen." Francine Zimmer

Patienten haben es schwer vor Gericht. Für Ärzte steht noch mehr auf dem Spiel, erklärt die Anwältin Francine Zimmer. Der Wiener Patientenanwalt Walter Dohr plädiert für den Vergleich. Durch die Rechtsberatung führt Stefan Löffler. STANDARD: Wieso klagen Patienten ihre Ärzte? Zimmer: Auch wenn man über Risiken Bescheid weiß, geht man immer davon aus, dass es nur die anderen trifft. Trifft es einen dann doch, sucht man jemand, der Schuld trägt. Es geht nicht immer um Geld, sondern oft darum, Gerechtigkeit zu bekommen, oder darum, dass der Arzt einen Fehler eingesteht.

STANDARD: Ist juristisch eindeutig, was ein Kunstfehler ist?

Dohr: Ich mag das Wort Kunstfehler nicht. Wird nicht nach dem Stand der Wissenschaft behandelt, handelt es sich um einen Behandlungsfehler. Ebenso wenn ein nicht so erfahrener Arzt sich einen Eingriff in Überschätzung der eigenen Fähigkeiten zutraut. Operiert ein junger Arzt seinen ersten Blinddarm, muss ein erfahrener Kollege die Aufsicht führen. Beruft sich das Krankenhaus darauf, dass der Kollege zu einem Notfall musste, liegt ein Organisationsversagen des Krankenhauses vor.

STANDARD: Wie viel riskiert ein klagender Patient?

Zimmer: Das hängt vom Streitwert und der Prozessdauer ab.

STANDARD: Nehmen wir an, durch einen Behandlungsfehler wurde ein Auge verloren.

Dohr: Vorausgesetzt, man sieht auf dem anderen Auge noch, wird das mit 18.000 bis 20.000 Euro bewertet.

Zimmer: Der Imageschaden einer Verurteilung ist für die Spitäler und Ärzte viel größer als der finanzielle.

Dohr: Ob ein Behandlungsfehler vorliegt, entscheidet der Sachverständige.

STANDARD: Was kostet ein Gutachten?

Dohr: 1200 Euro bis 5000 Euro.

Zimmer: Mit einem Gutachten ist es nicht immer getan.

STANDARD: Reicht ein Verhandlungstag?

Zimmer: Nein, mindestens drei. Die Kosten betragen mindestens 7000 Euro.

Dohr: Und etwa drei Jahre, bis ein Urteil gefallen ist. Wenn es ein größerer Prozess ist, sollten Sie bei Ihrer Rechtsschutzversicherung vorher nachfragen, ob Kosten bis zu 35.000 Euro abgedeckt sind. Ohne Rechtsschutz kann ich niemand guten Gewissens einen Medizinprozess empfehlen.

STANDARD: Sondern?

Dohr: Einen Vergleich mit dem Krankenhausbetreiber oder dessen Haftpflichtversicherung. Ist der Behandlungsfehler klar nachweisbar, hole ich, wenn ich als Patientenanwalt verhandle, für den Patienten immer eine Entschädigung heraus. Wo der Fehler nicht so klar ist, kriege ich mitunter eine Prozesskostenablöse.

STANDARD: Was ist das?

Zimmer: Die Versicherung stellt eine betriebswirtschaftliche Rechnung an. Liegen die drohenden Kosten für die eigenen Juristen, Sachbearbeiter und Schreibkräfte höher, als was man gewinnen kann, bietet man gerne einen Teilbetrag an.

STANDARD: Wie gerecht sind Medizinprozesse?

Zimmer: Die Verfahren sind so gerecht, wie sie sein können. Die Rechtsprechung hat es den Patienten erleichtert. Heute reicht ein Prima-Facie-Beweis der Kausalität aus.

Dohr: Wer sich im Krankenhaus früher eine Infektion holte, musste den konkreten Übertragungsweg zeigen. Dieser Pfleger oder jene Spritze war's. Das ist fast nie gelungen. Nach Umdrehung der Beweislast reicht es, wenn man zeigen kann, dass ein üblicher Hygienestandard unterschritten wurde.

STANDARD: Hat der Patient Zugang zu allen Krankenakten?

Zimmer: Ohne die könnte er einen Prozess nie führen.

Dohr: Die Dokumentationspflicht im medizinischen als auch im pflegerischen Bereich hat stark zugenommen.

Zimmer: Der Papierkram frisst immer mehr Arbeitszeit auf. Viele Ärzte haben dafür wenig Verständnis. Andererseits will sich das Spital absichern. Rechtsstreits entstehen aber oft nicht da, wo offensichtlich ein Behandlungsfehler unterlaufen ist, sondern es wird immer öfter zusätzlich auf Verletzung der Aufklärungspflicht geklagt, weil das leichter durchzubringen ist.

Trotz einer Verletzung der Aufklärungspflicht kann die Behandlung korrekt durchgeführt worden sein. Es verwirklicht sich bloß ein typisches Risiko.

Dohr: Da werden ja oft nur ein paar Kreuzerln auf einen Fragebogen gemacht. Das ist nicht genug.

Zimmer: Der Arzt muss abwägen, welche Krankheit der Patient hat, welcher Eingriff es ist, zu welchem Zeitpunkt er aufklärt, ob der Patient es verstanden hat, auch was zu viel Information ist, ob einem labilen oder todkranken Patienten das Resultat zuzumuten ist. Es gibt viele Einzelurteile zur Aufklärungspflicht, die Rechtsprechung wird strenger.

Dohr: Wenn es keine Behandlungsalternative gibt, wird durch eine minimale oder suboptimale Aufklärung kein Schaden entstehen. Anders sieht es etwa bei Schönheitschirurgie aus. Klärt der Arzt so intensiv wie erforderlich auf, hat er Sorge, dass er die Klientin verliert.

STANDARD: Welche Fächer sind von Klagen und Beschwerden am häufigsten betroffen?

Dohr: Fast jede dritte Beschwerde im Spitalsbereich trifft die Chirurgen. Die sind aber deshalb keine schlechteren Ärzte. Nach einem chirurgischen Eingriff liegt für den Patienten auf der Hand, ob der Beschwerde abgeholfen ist oder eine neue Beschwerde dazugekommen ist.

Bei einer langen internistischen Geschichte, die sich über Jahre zieht, ist das viel schwerer festzumachen. Bei den niedergelassenen Ärzten fallen die meisten Beschwerden auf die Zahnärzte, wobei es in der Hälfte dieser Fälle um Honorarfragen geht.

STANDARD: Wie streitfreudig sind österreichische Patienten?

Zimmer: Nicht mehr als in anderen europäischen Ländern. Hier gibt es nicht so diese Kultur des Streitens wie in den USA, finanziell etwas herauszuholen.

Dohr: Ein Austriacum sind die Patientenanwälte. Die Deutschen und die Schweizer beneiden uns um diese Einrichtung.

Wir Patientenanwälte stehen nicht in Konkurrenz zu den Rechtsanwälten, sondern je nach Fall kann der eine oder der andere dem Patienten und letzten Ende dem Recht zum Durchbruch verhelfen. Für Fälle, wo es schwierig ist, einen Behandlungsfehler nachzuweisen, aber jeder sieht, dieser Patient ist schlecht ausgestiegen, gibt es seit 2001 den Patientenentschädigungsfonds.

STANDARD: Kann man sich auch an den Fonds wenden, wenn man vor Gericht verloren hat?

Dohr: Nicht wenn das Gericht festgestellt hat, dass keine Haftung gegeben ist. Was wir vorher ausschöpfen, ist die Möglichkeit, außergerichtlich zu einer Entschädigung von der Haftpflichtversicherung zu kommen.

STANDARD: Patienten zahlen 73 Cent pro Spitalstag in den Fonds ein, obwohl dieses Geld den Spitälern zu gute kommt.

Dohr: Gegenüber dem Fonds tun sich die Spitalsärzte leichter zu erklären, wie etwas gelaufen ist, weil sie nicht verurteilt werden.

Zimmer: Die Angst der Ärzte vor Rechtsstreitigkeiten wächst, weil ihnen massive Konsequenzen drohen.

STANDARD: Kennen Sie Ärzte, die nach einer Verurteilung den Job verloren haben?

Zimmer: Einige. Das geht flott. Ein Spital möchte seinen Ruf nicht beschädigen.

STANDARD: Setzen Ärzte nicht alles daran, Fehler zu vertuschen?

Zimmer: Wünschenswerter wäre, dass sie die Fehler aufklären und aus ihnen lernen. Da müsste sich aber gesellschaftlich etwas ändern. Es ist ja nicht nur so, dass manche Ärzte glauben, sie seien Götter in Weiß, sondern die Gesellschaft erwartet von ihnen Gottgleiches, sprich: fehlerloses Handeln.

Dohr: Die Fehlerunkultur ist ein massives Problem. Immerhin gibt es heute anonyme Fehlermeldesysteme für die so genannten "near misses", also beispielsweise wenn die Kanüle mit einer falschen Transfusion bereits vorbereitet wurde und es erst dann bemerkt wird.

Diese Beinahe-Fehler müssen erfasst werden, um Gefahren zu erkennen und die organisatorischen Abläufe zu verbessern. Ich kenne Krankenhäuser, wo jeder Primar die Komplikationsrate oder Wiedereinweisungsquote von jedem seiner Ärzte weiß. Der Patient weiß es nicht, die Öffentlichkeit auch nicht.

STANDARD: Kann es der überweisende Arzt herausfinden?

Dohr: Nein. Das Einzige, was man weiß, ist, wie viele Beschwerden in den Krankenhäusern anfallen.

STANDARD: In Ihrem Tätigkeitsbericht für 2004 haben Sie die Wiener Spitäler mit den höchsten Beschwerderaten aber nicht genannt. Dohr: Weil der Patientenanwalt keine Disziplinarstelle ist. Für den in Kürze erscheinenden 2005-Bericht habe ich alle ärztlichen Direktoren gefragt, und keiner hatte etwas dagegen, dass ich die Beschwerdehäufigkeit nenne. Zimmer: Die Erfolgsquoten einzelner Spitäler oder Ärzte zu veröffentlichen hat in den USA aber auch dazu geführt, dass Ärzte und Spitäler riskantere Patienten nicht mehr operieren, um ihren "track record" zu vermarkten. Dohr: Ich stelle einen Paradigmenwechsel fest, man macht weniger Geheimkultur, sondern ist schon ein bisschen mehr für Transparenz. (MEDSTANDARD/10.07.2006)