Wissenschaft
Ein gewisser Paul Kammerer
Klarstellung zu einer "Schummelgeschichte"
DDr. Gerd Müller
In ihrer Kritik unredlicher Praktiken im Wissenschaftsbetrieb ("Schrott vom Bauplatz Wissenschaft", STANDARD, 29. 5.)
zeihen die Autoren den 1926 durch Selbstmord verstorbenen Wiener Experimentalbiologen Paul Kammerer des
"bekanntesten und dramatischsten Schummelfalls der heimischen Wissenschaftsgeschichte". Da Kammerer sich zu diesem
Vorwurf nicht mehr äußern kann, sei es mir gestattet, die ihn betreffenden Sätze zu kommentieren:
1. "Ein gewisser Paul Kammerer wollte mithilfe von Geburtshelferkröten nachweisen, dass erworbene Eigenschaften im
Erbgut fixiert werden können." Dies ist unrichtig. Kammerer wollte nachweisen, dass die Wiederherstellung ursprünglicher
Umweltbedingungen bei der Paarung von Geburtshelferkröten zur Wiederausprägung von ursprünglichen, körperlichen
Merkmalen führt. Er beschrieb, dass durch Verpaarung im Wasser die für diese Art der Fortpflanzung charakteristischen
Brunftschwielen wieder auftreten, die diese sich normalerweise am Land verpaarende Art verloren hat. Er spricht in der
Interpretation seiner Ergebnisse nicht von der Vererbung erworbener Eigenschaften, sondern, völlig korrekt, vom
(atavistischen) Wiederauftreten eines phylogenetisch alten Merkmals.
2. "Doch die Haftschwielen, die die ins Wasser gelockten Tierchen für die Paarung angeblich entwickelt hatten, entpuppten
sich als unter die Haut gespritzte Tusche." Auch diese Aussage ist in dieser Form nicht richtig. Vielmehr wurden, sieben
Jahre nach der Publikation der Ergebnisse, am einzigen verbliebenen Museumspräparat Manipulationen mit Tusche
festgestellt. Keineswegs wurde bewiesen, dass die ursprüngliche, fotografisch und histologisch belegte Beschreibung des
experimentellen Ergebnisses gefälscht war.
3. "Der Wiener Zoologe nahm sich 1926 das Leben, nachdem ihm der Schwindel von einem britischen Kollegen
nachgewiesen worden war." Auch diese Aussagen treffen so nicht zu. Weder wurde der wissenschaftliche Nachweis einer
Fälschung erbracht, noch ist Kammerers Selbstmord einem Eingeständnis von Schuld gleichzusetzen. Vielmehr bietet die
durch den gegenständlichen Artikel bestätigte Vorraussicht auf eine immer währende Assoziation des eigenen Namens mit
Wissenschaftsfälschung auch im ungerechtfertigten Fall Anlass genug für eine tiefe Depression. Paul Kammerers durchaus
bewegte Biografie lässt aber auch andere Möglichkeiten der Verzweiflung zu - vgl. die einschlägigen Aufzeichnungen von
Arthur Koestler (STANDARD, Album, 17. 2. 95).
DDr. Gerd Müller
Ao. Univ.-Prof. am Institut für Anatomie, Universität Wien