Vier Nobelpreisträger in Wien: "Am Anfang steht die Neugierde", aber das praktische Interesse spielt ebenso eine große Rolle, sagten Roy Glauber, Claude Cohen-Tannoudji, Chen Ning Yang und Walter Kohn.

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    Vier Gäste kamen zum ersten Wiener Nobelpreisträgerseminar. Sie sprachen über Naturwissenschaften einst und heute, über die Brauchbarkeit von Erkenntnissen und die Freude an Forschung, die strittige Fragen entscheiden kann.

Wien - "Ich weiß, dass wir uns wegen Ludwig Boltzmanns 100. Todestag hier treffen", sagte der amerikanische Physiker Roy Glauber. "Mehr weiß ich nicht. Aber das ist ja schon einiges."

Am gestrigen Donnerstag fand das erste Wiener Nobelpreisträgerseminar statt. Vier entsprechend geehrte Naturwissenschafter kamen zu Vorträgen und einer Diskussion im Festsaal des Wiener Rathauses zusammen. Geladen hatte Helmuth Hüffel, Präsident des Vereins zur Förderung der Theoretischen Physik in Österreich. Mit dem Ereignis sollte die Bedeutung Wiens und seiner Universität (beides Mitveranstalter) herausgestrichen und eine "Schnittstelle zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft" geschaffen werden.

Im Vorfeld sprachen die vier über ihre Arbeit einst und jetzt und über die Bedeutung preisverdächtiger Grundlagen- und angewandter Forschung. Neben Glauber, der seinen Preis für bahnbrechende Arbeiten in den Fünfzigerjahren zur Quantenoptik erst 2005 in Stockholm bekam, waren dies
  • Claude Cohen-Tannoudji, der in Paris an Atomkühlung mit Laserlicht und den dazugehörigen Laserfallen gearbeitet hat (Physik, 1997),
  • der aus Wien stammende Walter Kohn, der in Kalifornien lehrt und vor allem für komplexe Berechnungsmethoden im Grenzgebiet zwischen Physik und Chemie und für seine Dichtefunktionaltheorie bekannt wurde (Chemie, 1998), und
  • der aus China stammende, in den USA und nunmehr in Hongkong und Peking tätige Chen Ning Yang, der sich vorwiegend mit statistischer Mechanik und Symmetrieprinzipien beschäftigt (Physik, 1957).

    Kaum große Fragen

    Für Ning Yang ist Boltzmann eine willkommene Klammer um das Wiener Treffen. Der Naturwissenschafter hat im ausgehenden 19. Jahrhundert probabilistische Modelle in der Thermodynamik entwickelt und war damit auf Unverständnis gestoßen. Dass konkurrierende Theorien die Welt gleichermaßen gut erklären erklären können - halt unter jeweils anderem Blickwinkel, führte er damals zur Verteidigung seines Zugangs vor allem gegen Mach an.

    Der chinesische Nachfahre verwies auf die eminente Bedeutung der damaligen Debatten, denen heute - zumindest auf den Gebieten, die das Quartett beherrscht - kaum etwas entspricht. Über die großen Fragen der Physik, sekundierte Glauber, gebe es zur Zeit kaum konkurrierende Theorien. Ja, vielleicht die String-Theorie, aber die, da war er sich mit Cohen-Tannoudji einig, sei so unzugänglich, dass sie keine praktischen, experimentell nachweisbaren Resultate zeitige. Das Schöne an Boltzmanns Arbeit, so wiederum Ning Yang, sei es, dass sie den Gang der Naturwissenschaft geändert hat. Er wisse das zu würdigen: Er hatte einmal den Grabstein des Physikers in Wien besucht, um die dort eingemeißelte Formel zu bewundern.

    Ist die Arbeit späterer Nobelpreisträger von Neugierde oder von Praktischem angetrieben? Am Anfang stehe die Neugierde, sagte Glauber, was heute in den USA fast anrüchig klinge. Es brauche beides, warf Kohn ein. Die Gesellschaft habe praktische Interessen und müsse bedient werden. Aber ist nicht zum Beispiel seine Dichtefunktionaltheorie ... ? Nein, die sei von pragmatischen Interessen geleitet, spiele bei Legierungen eine große Rolle, und Legierungen haben Kohn schon immer interessiert.

    Eine Frage noch zu Wien und der Zukunft der hochrangigen Forschung: Warum braucht die Stadt ein Elite-Institut? Glauber: "Warum nicht?" Ning Yang: "Obwohl es schon eine Akademie der Wissenschaften gibt? Ich glaube, die Tradition wird fehlen, die kann man nicht aus dem Nichts schaffen." Cohen-Tannoudji: "In Frankreich würde es eine Revolution gegen solch eine Selektion geben. Andererseits: Wir haben ja bereits Elite-Institutionen wie die grandes écoles." (Michael Freund, DER STANDARD, Print, 30.6.2006)