Der Architekt Helmut Reitter zweifelt an der Fähigkeit der Politik, die Zersiedelung zu stoppen. In Tirol hilft hingegen die Topografie. "Der beste Raumplaner, den ich kenne, ist die Lawine", sagt er.

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Klaus Lugger von der Neuen Heimat Tirol sorgt sich um die ausreichende Verfügbarkeit von Baugrund. Nur ein Überangebot gewidmeter Flächen könne einen leistbaren Wohnbau garantieren.

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Der frühere Wiener Planungsdirektor Arnold Klotz beobachtet, wie in Tirol aus dem Wohnen im Grünen eine ungemütliche Zwischenstadt wird. Er fordert ein Umdenken in der Raum-ordnung.

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Die Zersiedelung ist in weiten Teilen Österreichs, wie etwa im Tiroler Inntal, weiter vorangeschritten als in Bayern. Experten fordern eine striktere Umsetzung der Raumordnungsgesetze und mehr "Mut zur Dichte" im Wohnbau.

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Innsbruck – Der Tiroler Arnold Klotz muss nicht weit fahren, um Beispiele für gelungene Raumplanung zu finden. Ein Abstecher zum nördlichen Nachbarn reicht aus.

"In Bayern gibt es wirklich geschlossene Ortschaften, dort ist Zersiedlung ist kein Thema," berichtet der ehemalige Wiener Planungsdirektor, der nun am Institut für Städtebau und Raumplanung an der Universität Innsbruck lehrt. Dies sei die Folge eines konzisen und strengen Raumordnungsgesetzes, das zentral vom Bundesland und nicht von den einzelnen Bürgermeistern umgesetzt wird.

Auch im Vorarlberger Rheintal seien vor 20 Jahren übergeordnete Grünräume festgelegt worden, die nun als Dämme gegen die Zersiedlung wirkten, sagt Klotz mit Blick nach Westen. Und auch wenn die Alemannen Einfamilienhäuser genauso lieben wie die Tiroler, gebe es auf diesem Sektor dank ihrer guten jungen Architekten hohe ästhetische Standards. "Selbst einfachste Häuser haben dort ein architektonisches Konzept."

Dem Tiroler Inntal drohe hingegen in den kommenden Jahrzehnten die totale Ausfransung der Städte und der Verlust der Landschaft, warnt Klotz. Wenn jeder seinen Traum vom Eigenheim verwirkliche, sei das "nicht mehr ein Wohnen im Grünen, sondern eine Zwischenstadt". Diese Entwicklung raube den Städten die Kaufkraft, schaffe Probleme im fließenden und ruhenden Verkehr, bringe trotz hoher Erschließungskosten den Bewohnern eine schlechte Infrastruktur und – was Klotz am meisten schmerzt – führe zum "Verlust der gestalterischen Identität".

Spielraum lassen

Nur durch konsequente Verdichtung könne man dem Verlust an Landschaft Einhalt gebieten und die Qualität des urbanen Lebens erhalten, sagt Klotz. Hier sieht er auch für Tirol einige Hoffnungsschimmer. Unter dem Begriff der Nachhaltigkeit setze sich die Erkenntnis durch, dass "man auch den kommenden Generationen einen Spielraum lassen muss. Erstmals wird in Tirol die Urbanisierung angesprochen." Die Stadterneuerung in Innsbruck setze auf Neunutzung von brachen oder falsch genutzten Flächen und dämme so die Abwanderung ein. Bei der Stadterweiterung werde stärker auf die Anbindung an den öffentlichen Verkehr geachtet. Und im Umland von Innsbruck werde flächensparendes Bauen forciert. Auf diese Weise könnten 45 Prozent des Baulandes, 19 Prozent der Erschließungskosten und 22 Prozent der Grunderwerbskosten eingespart werden.

Doch immer noch, glaubt Klotz, seien eine striktere Regionalplanung und mehr Anreize für dichteren Wohnbau in der Wohnbauförderung notwendig – auch wenn dies dem individuellen Wohntraum der meisten Bürger widerspricht.

Der Speckgürtel als Ausdruck des Wohlstands

Für Klaus Lugger, den Geschäftsführer der Neuen Heimat Tirol und Aufsichtsratsvorsitzenden des österreichischen Verbandes gemeinnütziger Bauvereinigungen, hat "der Mut zur Dichte" in Tirol vor etwa zwölf Jahren begonnen. Neue Richtlinien hätten dazu geführt, dass weniger Einfamilienhäuser und mehr Reihenhäuser gebaut werden. Das Spannungsfeld zwischen Raumordnung und Eigentum lasse sich allerdings nicht leicht auflösen, betont Lugger. "Viele Bürger wollen im Grünen wohnen, aber die Vorteile vom Zentrum genießen. Der Speckgürtel rund um die Städte wird von den Raumplanern gerügt, ist aber auch Ausdruck des Wohlstands, den wir erreicht haben." Unumstritten sei das Ziel, mit Grund und Boden sparsamer umzugehen als bisher, doch in Tirol müsse es auch weiterhin Platz für Einfamilienhäuser geben. "Wir müssen den Mix aufrechterhalten, sonst haben wir, wie etwa in Frankreich, entvölkerte Täler", fordert Lugger.

Schließlich müsse man darauf achten, dass genügend Bauland zur Verfügung steht. "Das Überangebot an gewidmeten Flächen ist wichtig, denn es gibt uns gemeinnützigen Bauträgern erst die Wahl. Je weniger gewidmet wird, desto unerschwinglicher wird das Wohnen." Vorteilhaft sei die Umnutzung von Kasernen und alten Industriegeländen.

Bauen in den Wäldern

"Aber auch die Verbauung von Wäldern soll, wenn sie nicht hochwertig sind, kein Tabu sein. Das ist immer noch besser, als hochwertige landwirtschaftliche Flächen zu verbauen." Trotz steigender Grundstückpreise können die Gemeinden weiterhin leistbares Bauland zustande bringen, "wenn sie nur wollen", zeigt sich Lugger überzeugt. Und dies sei notwendig, damit Österreich seine Vorreiterrolle beim leistbaren Wohnbau in der EU beibehalten könne.

Helmut Reitter, Präsident der Architektenkammer für Tirol und Vorarlberg, hat hingegen wenig Vertrauen in die Fähigkeit der Politik, die Zersiedelung der urbanen Zentren aufzuhalten. Er zitiert den britischen Architekten Cedric Price, der die mittelalterliche Stadt mit einem hart gekochten Ei, Gründerzeitstädte mit einem Spiegelei, und postmoderne Metropolen mit einer Eierspeise vergleicht. Dieser Prozess sei durch Planung kaum aufhaltbar, glaubt Reitter, fügt aber hinzu: "Tirol und der Alpenraum sind unglaublich privilegiert. Da die Besiedelungsgrenze bei 800 m Seehöhe aufhört, verwirklicht sich das Modell einer lang gezogenen Bandstadt." In den höher gelegenen Tälern würde die Lawinengefahr für verdichteten Siedlungsbau sorgen, weil man nur an bestimmten Plätzen bauen kann. "Der beste Raumplaner, den ich kenne, ist die Lawine." (Eric Frey, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28.6.2006)