Da haben wir sie also wieder, unsere liebe Freundin Schiedsrichterdebatte. Nach dem Debakel vor vier Jahren glaubte man sich in Deutschland 2006 besser aufgestellt. Nur noch eingespielte und vollfitte Trios, indoktriniert mit einem dicken FIFA-Strafenkatalog sollten schönen Sport garantieren. Heraus kommen niederadministrierte Spiele und immer neue Rekorde an Verwarnungen und Ausschlüssen. Und das bei fair wie nie zuvor verlaufenden Begegnungen, in denen Brutalitätsniveaus früherer Zeiten schon längst nicht mehr erreicht werden.

Man kann von Franz Beckenbauer halten was man will, sein intuitives Verständnis des Fußballs ist unbestreitbar. Und so lobte er den Mexikaner Archondia, der im Achtelfinale Ukraine - Schweiz endlich wieder Spielfluss zuließ. Dass durch Strafverschärfung Verbesserungen irgendeiner Art zu erzielen wären, erweist sich im richtigen Leben immer wieder als Trugschluss. Doch wie dort die Politik glauben die Mächtigen des Weltverbandes weiter an das Heilmittel "Null Toleranz". Dabei werden Probleme bestenfalls velagert. Da mittlerweile bei jedem Niedersinken mit einem Pfiff gerechnet werden kann, wird die Fallsucht ausgebuffter Profis eher nicht sinken. Insbesonders wenn auch noch die Chance der Dezimierung des gegnerischen Teams steigt - welche zu allem Überfluss im modernen Spiel drastischere Folgen denn je nach sich zieht.

Ungebührliche starke Einflussnahme auf das Spielgeschehen galt einmal als Zeichen schwacher Schiedsrichter. Mittlerweile scheint sie sich zur Norm entwickelt zu haben. Der Ausschluss von Marco Materazzi kann als bislang letztes Beispiel in einer erschreckend langen Liste gelten. Dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht, ist jedoch zwingende Folge einer Interpretation des Geschehens auf dem Feld als Abfolge zu ahndender Vergehen. Die Tugend der Rigorosität hat den Common Sense einer gut über die Bühne gebrachten Partie abgelöst. Um diese zu einer runden Sache werden zu lassen, muss das Augenzudrücken zu gegebener Zeit als Möglichkeit erhalten bleiben.

Neben Unsäglichkeiten wie der Sanktionierung von Torjubel, bringt der Kampf gegen Kleinigkeiten Gelb-Fluten im Mittelfeld und die Zuschauer um den Zauber von Spielern wie Michael Essien. Der ghanaische Star darf wegen Sperre gegen Brasilien nicht antreten. Die Schiedsrichter selbst sind auch nur arme Hunde, dazu genötigt, neunzig oder mehr Minuten die Hand an der Brusttasche zu haben. Der Einsatz des gesunden Menschenverstands im Sinne des größeren Ganzen ist nicht mehr erwünscht, Handlungsspielraum bis zur Nichtexistenz minimiert. Über die Einhaltung der Vorgaben wachen FIFA-Kommissare, die bei "Fehlern" unbarmherzig Sperren aussprechen. Solchen Druck würde man keinem Spieler wünschen. Die Überforderung der Unparteiischen ist insofern keine große Überraschung. (Michael Robausch)