Bild nicht mehr verfügbar.

Wolfgang Schüssel, Bundeskanzler

Foto: APA/EPA/Hoslet
Wien – Für Bundeskanzler Wolfgang Schüssel ist der Bawag-Skandal "eine bittere Sache": "Das ist der größte Wirtschaftsskandal der Zweiten Republik. Das trifft uns alle. Daher habe ich keine Schadenfreude. Ich bin tieftraurig. Auch darüber, dass da immer mehr herauseitert." Mit dem früheren ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch habe er "viele Sträuße ausgefochten", aber immer Respekt bewahrt: "Ich bin von Verzetnitsch tief enttäuscht." Die SPÖ könne sich nicht vom ÖGB absentieren.

Die EU-Präsidentschaft sei positiv verlaufen. "Wir müssen uns überhaupt nicht genieren." Zu einem möglichen EU-Beitritt der Türkei sagte Schüssel: "Ich halte es für ausgeschlossen, dass für die Türkei die gleichen Ergebnisse herauskommen wie etwa für Ungarn." Das Ergebnis der Verhandlungen sei offen: "Wie das dann am Ende heißen wird, wird im Laufe der Verhandlungen definiert werden müssen."

*****

STANDARD: In ausländischen Medien war das Echo durchaus kritisch über Ihre EU-Ratspräsidentschaft. Hat Sie das überrascht?

Schüssel: Das gibt es ja gar nicht, dass das alle positiv sehen. Ich bin zufrieden, wenn die Leute sagen, Ihr habt Impulse und inhaltliche Akzente versucht. Es ist lächerlich zu glauben, man kann Europa in einem halben Jahr dramatisch verändern. Als Gesamtbild kann man sagen, dass Europa jetzt besser dasteht als vor einem Jahr nach den gescheiterten Verfassungsreferenden und dem Budgetkrach. Das war jeder gegen jeden.

STANDARD: Es gibt den Vorwurf, es habe zu viel Gugelhupf und zu wenig Inhalt gegeben.

Schüssel: Warum stört das manche, dass man Atmosphäre und Inhalt verbinden will? Das passt sehr wohl zusammen. Das gilt auch für das Präsidentschafts-Logo und für das Café d’ Europe. Denn Europa ist in Kaffeehäusern entstanden. Aber auch in der Substanz haben wir etwas weiter gebracht wie Finanzvorschau, die Energiesparziele, die Arbeitsplatzziele. Die EU hat heuer 2,03 Millionen Jobs mehr als vor einem Jahr. Wir müssen uns überhaupt nicht genieren. Aber ich lass mir nicht einreden, dass man Europa nur Grau in Grau und bitter ernst erklären kann.

STANDARD: Österreich hat sich für den Westbalkan eingesetzt, steht bei der Türkei auf der Bremse. Warum scheiterten Sie beim EU-Gipfel, das Aufnahmekriterium zu verankern?

Schüssel: Wir haben am 3. Oktober erstmals durchgesetzt, dass neben den Kopenhagener Kriterien auch die Aufnahmefähigkeit eine Bedingung ist. Das ist fixiert. Was wir erreichen wollten beim Gipfel war, dass wir die Inhalte definieren. Die EU-Kommission macht nun bis Jahresende einen Bericht dazu. Die Beitrittsperspektive für die Westbalkan-Staaten offen zu halten, war ein Erfolg.

STANDARD: Sind Sie für einen Beitritt Rumäniens und Bulgariens 2007 trotz der Defizite?

Schüssel: Ich gehe davon aus.

STANDARD: Warum sind Österreicher so beitrittsskeptisch?

Schüssel: In Oberösterreich waren vor der Erweiterung 60 Prozent gegen den Beitritt Tschechiens, jetzt sind 60 dafür. Die Erweiterung ist ein Riesenerfolg für Österreich. Dass Österreich der größte Investor in den neuen Mitgliedsstaaten plus Balkan ist, ist doch eine hinreißende Erfolgsgeschichte. Da muss man erklären, erklären, erklären.

STANDARD: Ist seit dem Start der Türkei-Verhandlungen Ihre Skepsis kleiner geworden?

Schüssel: Ich halte es für ausgeschlossen, dass für die Türkei die gleichen Ergebnisse herauskommen wie etwa für Ungarn. Wir werden darauf bestehen, dass der österreichische Arbeitsmarkt nicht automatisch geöffnet wird. Man muss aber die Türkei so eng wie möglich an Europa heranführen. Ich bin nicht skeptisch, sondern realistisch. Wenn die Türkei schrittweise von Verpflichtungen gegenüber Zypern abzurücken beginnt, ist das problematisch. Die Verpflichtungen sind bis Jahresende zu erfüllen.

STANDARD: Der CDU-Außenpolitiker Elmar Brok meinte, man soll es Partnerschaft Plus nennen. Sind Sie auch der Ansicht?

Schüssel: Das ist die Leidenschaft meines Freundes Brok, dass man immer vorher das Ende definieren muss. Wir haben uns auf die gemeinsame Formel geeinigt, dass das Ende der Verhandlungen offen bleibt. Wie das dann am Ende heißen wird, wird im Laufe der Verhandlungen definiert werden müssen.

STANDARD: Ist für Sie ein Beitritt der Türkei ausgeschlossen?

Schüssel: Ausgeschlossen ist es nicht, aber in dem Fall wird die österreichische Bevölkerung in einer Volksabstimmung das letzte Wort haben.

STANDARD: Manche Länder wollen Teile der EU-Verfassung vorziehen. Ist das sinnvoll?

Schüssel: Nein. Dann müsste man sich einigen, welche Teile, das würde Streit bedeuten und nur dazu führen, dass jedes Land seine Rosinen herauspicken will. Wenn man mit Rosinenpicken anfängt, kommt man zu keinem Ende. Dass etwas Neues kommen muss, ist völlig klar. Das geht von einem neuen Namen über Interpretationen bis zu Annexen wie einem Sozialmodell.

STANDARD: Sie wollen eine eigene Europasteuer – wann?

Schüssel: Diese Europaeigenmittelquelle ist zwar sehr umstritten, wird aber früher oder später kommen. Man kann ja Zwischenvarianten machen, dass man das gemeinsam einführt und jedes Land definiert, wofür das Geld ausgegeben wird. Die Öffentlichkeit muss sich mit dem Gedanken anfreunden. Da muss man Überzeugungsarbeit leisten.

STANDARD: Große Teile der Öffentlichkeit verstehen den Wanderzirkus des EU-Parlaments zwischen Brüssel und Straßburg nicht. Wäre ein Parlametssitz nicht sinnvoller?

Schüssel: Ich halte es nicht für gescheit, alle EU-Institutionen in Brüssel zu zentralisieren. Es ist grundfalsch, dass der Europäische Rat nur in Brüssel tagt. Der Rat sollte wieder dazu übergehen, mindestens einmal im Halbjahr in einem der Mitgliedsländer zu tagen.

STANDARD: Die Entscheidung für den Gipfelort Brüssel wurde mit Zustimmung Österreichs gefällt, nachdem es Ausschreitungen in anderen Städten gab.

Schüssel: Die Sicherheit betrifft jeden Ort. Und die Frage der Sichtbarkeit Europas kann sich nicht nur an einem Ort, in Brüssel, manifestieren.

STANDARD: Nutzt Ihnen die Präsidentschaft im Wahlkampf?

Schüssel: Vielleicht wird registriert, dass wir auch für Österreich einige Dinge miteintscheiden können. Etwa die Wegekostenrichtlinie.

STANDARD: Die Mautklage ist durch die Wegekostenrichtlinie abgewendet – warum riskieren Sie bei den Zigarettenpreisen eine nächste Klage?

Schüssel: No risk, no life. Warum soll ich es nicht probieren? Mindestpreise für Zigaretten sind gesundheitspolitisch richtig. Mag sein, dass wir das Verfahren verlieren. Aber von vornherein im Liegen umzufallen, wäre falsch. Es ist auch richtig, dass sich Österreich in der Gentechnik so verhält. Mit zwei, drei Sachen sind wir nicht durchgekommen. Aber wir finden schon eine Lücke, dass wir dem Standpunkt der Konsumenten zum Durchbruch verhelfen. Das muss ausgetestet werden.

STANDARD: Bisher hat es erst eine Regierung geschafft, trotz EU-Präsidentschaft im Wahljahr wiedergewählt zu werden.

Schüssel: Das hat miteinander nichts zu tun. Jetzt war die EU-Ratspräsidentschaft, im Herbst ist Wahl.

STANDARD: Wann wird gewählt?

Schüssel: Das kann kein Vorteil oder Nachteil sein für irgendeinen, ob am 26. November, am 14. Oktober oder am 1. September gewählt wird.

STANDARD: Weil die SPÖ wegen der Bawag im Tief ist?

Schüssel: Das ist der größte Wirtschaftsskandal in der Zweiten Republik. Das trifft uns alle. Daher habe ich keine Schadenfreude. Ich bin tieftraurig. Auch darüber, dass da immer mehr herauseitert. Was mich persönlich besonders betroffen macht, dass man 2000 nicht die Karten aufgedeckt hat, weil eine ungeliebte Regierung da ist, auf Pump die gute Postsparkasse kauft um einen Preis, der nie verfügbar war. Ich habe mit Fritz Verzetnitsch viele Sträuße ausgefochten, aber immer Respekt bewahrt. Ich bin von Verzetnitsch tief enttäuscht.

STANDARD: Die SPÖ wirft die ÖGB-Spitze aus dem Parlament. Ist das klug?

Schüssel: Das ist eine SPÖ-Debatte. Ich komme aus einer Zeit, wo ich erlebte, dass es Sinn macht, dass die Sozialpartner in politische Debatten eingebunden sind. Vielleicht ist das heute tatsächlich anders. Wirtschaftskammer-Präsident Leitl sitzt nicht im Parlament – aber das war seine Entscheidung. Aber die SPÖ kann sich nicht vom ÖGB absentieren, das sind ihre Funktionäre. Aber noch bin ich Ratspräsident, daher liegt mein Hauptaugenmerk auf der EU. Bei der Fußball-WM gab es für europäische Mannschaften 15 Siege, 4 Niederlagen und 4 Unentschieden. Wenn die EU so ein global player wird wie im Fußball, wäre es nicht schlecht. Ein gemeinsames EU-Team wäre schrecklich. Es muss bunt bleiben. (DER STANDARD, Printausgabe, 24.6.2006)