Der niederländische Architekt Mart Stam konstruierte 1926 den Prototyp des sogenannten Kragstuhls ohne Hinterbeine aus zehn Gasrohrstücken, die durch Muffen verbunden waren. Zu sehen ist eine Rekonstruktion aus dem Jahre 1979.

Foto: MAK/Georg Mayer

Wer weiß schon, wann der Stuhl erfunden wurde. War er nicht immer schon da? In Gestalt eines Steins, eines Baumstrunkes oder in Form eines herumliegenden Säbelzahntigerschädels? Ganz anders, nämlich viel präziser, verhält es sich mit der Sesselwerdung im Falle des so genannten Freischwingers, auch wenn Mart Stams "Gasrohrstuhl" aus 1926 - sozusagen der Urvater dieser Möbelgattung - ebenfalls nicht mit archaischer Anmutung geizt.

Der Freischwinger feiert also seinen 80er, weswegen ihm das MAK eine kleine Möbelparty ausrichtet, zu der über 30 sehr verschiedene Vertreter geladen wurden, die mehr oder weniger ohne Hinterbeine auskommen, was den Künstler Kurt Schwitters schon 1927 zu der Formulierung veranlasste: "Warum vier Beine, wenn zwei ausreichen?"

Kurator Sebastian Hackenschmidt, Nachfolger von Christian Witt-Döring als MAK-Kustos für Möbel und Holzarbeiten, interessiert bei den ausgestellten Möbeln von Marcel Breuer, Ludwig Mies van der Rohe, Ron Arad und einigen mehr vor allem der kulturhistorische Zusammenhang zwischen Architektur und Materialexperiment. So sieht er bei den frühen Entwürfen vor allem das Leitmotiv der Architektur der 20er-Jahre, aus einem neuen Raumbedürfnis heraus Objekte von jeglicher Schwere zu befreien und zu reduzieren. "Die meisten dieser Möbel entstanden in engem Zusammenhang mit architektonischen Entwürfen und lassen sich als Architekturmanifest begreifen", so Hackenschmidt. Gleichzeitig will der Möbelforscher auf die enorme Materialvielfalt von Stahlrohr über Sperrholz und diverse Kunststoffe hinweisen. Ein weiteres Charakteristikum dieser Entwürfe sieht er im Versuch, der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen, sich also auch physikalisch von allem bisher Dagewesenen abheben zu wollen.

Schwing- und Kragstühle

In der Schau findet sich allerdings ebenso das eine oder andere Stück, das so gut wie gar nicht schwingt oder sich durchaus in gewisser Weise auf die Hinterbeine stellt, wie etwa der schwingende Entwurf "Straßenbahnsessel" des Duos Katja und Werner Nussbaumer aus dem Jahr 2004. Der Sitzordnung halber sei erwähnt, dass der klassische Freischwinger unter dem Gewicht seines Besitzers eben nachgibt und schwingt, während sein ebenfalls Hinterbein-loser Verwandter, der aufgrund seiner starren Konstruktion nicht federt, zu den so genannten Kragstühlen zählt.

Dass sich diese eng verwandten Stücke hier zusammenfinden, liegt daran, dass der Kurator vor allem eine historische Entwicklung und somit möglichst viele Zusammenhänge innerhalb dieser Möbelfamilie zeigen will. In der Schau zu studieren sind natürlich alte Bekannte wie der an vielen Ecken auftauchende Panton-Chair - ein weißes Exemplar wurde von der Künstlerin Elke Krystufek bemalt -, Gerrit T. Rietvields "Zig-Zag-Stuhl" oder Alvar Aaltos "Modell Nr. 31" aus swinging Schichtholz.

Frosch vor dem Absprung

Neben diesen gelungenen Déjà-vus dürfte sich der Interessierte aber vor allem an Stücken freuen wie zum Beispiel Ernst Moeckls "Känguruh-Sessel", der trotz seines sehr orangen Outfits an einen Frosch vor dem Absprung erinnert, an Ron Arads Einzelstück "Eight By One", der so tut, als gäbe es überhaupt keine Schwerkraft, oder staunen angesichts Stefan Wewerkas sich schlängelndem "Einschwinger B.5", der überhaupt nur mit einem Haxen auskommt.

Wer angesichts der Ausstellung noch mehr Schwung holen will, kann auch eine wohl gestaltete Publikation zum Thema mit Beiträgen von Peter Noever, Hans Böhringer, Elke Krystufek, Rainer Zettl und Sebastian Hackenschmidt mit nach Hause nehmen und sich noch mehr in ein bahnbrechendes Stück Gestaltergeschichte vertiefen.
(Michael Hausenblas/Der Standard/rondo/23/06/2006)