Psychoanalytikerin Karin Lebersorger (links) und ATV-Supernanny Sandra Velásquez. Trotz Differenzen darin einig: Ein neues Fernsehformat für moderne Erziehung sei nötig.

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Verletzen TV-"Supernannys" die Intimsphäre oder lindern sie Leid? Die Psychoanalyse traf nun auf die TV-Erziehungswissenschaft. Seit Sigmund Freuds erster Kinderanalyse des "kleinen Hans'" hat sich viel verändert.

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Wien - Seit das erfolgreiche britische TV-Format "Supernannys" von deutschsprachigen Privatsendern importiert wurde, befassen sich auch österreichische Wissenschafterinnen mit der Erziehungsdoku. Zuletzt im Rahmen einer Wiener "Sigmund Freud Vorlesung" über Psychoanalyse.

Diese waren dem "kleinen Hans" gewidmet, jenem Fall, der heute als Freuds erster Versuch einer Kinderanalyse gilt. Um zu zeigen, wie modern Freud dachte, kontrastierte Psychoanalytikerin Karin J. Lebersorger sein Vorgehen mit dem der "Supernannys", die vor laufender Kamera in schwierigen Familien intervenieren. Lebersorger bemängelte, dass die medialen Erziehungsberaterinnen zwar erfolgreich seien, aber keinen umfassenden Verstehensprozess im Sinne Freuds einleiten. Also Eltern und Kinder über die Ursachen ihrer Probleme im Dunkeln lassen.

Das rief die Supernannys auf den Plan, konkret jene des österreichischen Privatsenders ATV, die sich unrechtmäßig attackiert fühlten. Auf Einladung des STANDARD trafen nun Lebersorger, die am Wiener Institut für Erziehungshilfe der psychoanalytisch orientierten Kindertherapie und Erziehungsberatung verpflichtet ist, und ATV-Supernanny Sandra E. Velásquez, die sich in ihrer Praxis an der Systemischen Therapie orientiert, in Wien zu einem Gedankenaustausch aufeinander.

Lebersorger kritisierte, dass es die Supernannys verabsäumen würden, eine gemeinsame Suche von Eltern und Kindern nach einem umfassenden Problemverständnis einzuleiten. Zudem würden Kinderrechte verletzt. Was Velásquez vehement bestritt: Sie und ihre Kollegin auf ATV hätten "immer wieder klargestellt, dass die Interventionen im Rahmen der Sendung nur ein Anfang sind".

Es sei selbstverständlich, dass es einer längeren Arbeit mit den Familien bedürfe "und dass es nach der Sendung weiterzugehen hat". Worum sie auch stets bemüht sei - und dementsprechend etwa für eine der im Fernsehen betreuten Familien auch einen geförderten Therapieplatz gesucht habe. Außerdem sei maximal eine temporäre Offenlegung der Privatsphäre der Kinder passiert - um diese vor Gewalt zu schützen.

Zwei Denkwelten

Zwar ist für beide klar, dass in Krisenfamilien, wie sie in der Supernanny-Sendung gezeigt werden, zuerst eine Deeskalierung und Stabilisierung erfolgen müsse, bevor ein Aufarbeiten der echten Hintergründe des bestehenden Konflikts beginnen kann. Doch während Lebersorger vor allem den nachfolgenden Verstehensprozess ins Zentrum rückt, fokussiert Velásquez auf die Deeskalierung und die damit verbundenen Interventionen. Mit dem Effekt, dass durch diese unterschiedlichen Gewichtungen zwei verschiedene Denkwelten aufgehen. Zu denen auch noch zwei unterschiedliche Medien-Politiken gehören.

Da es für Velásquez wichtig ist, Gewalt an Kindern zu verhindern und die Basis für die "Entschärfung von Leidensstrukturen" zu schaffen, die durch innerfamiliäre Dynamiken entstehen, sieht sie die Sendung "Supernannys" als Chance: Durch diese ließen sich auch Familien in einen Beratungsprozess locken, die von sonst nie eine Beratungsstelle aufgesucht hätten.

Und, noch wichtiger: Genau durch diese "Veröffentlichung" der Familie werde jene Reflexion in Gang gebracht, die zu einer Veränderung der problematischen familiären Strukturen führe. Was letztlich tagtäglich erlittenes Kinderleid, das genau durch die "Verborgenheit" der Familie entstanden ist, reduziere. Mag es daher auch eine "temporäre Offenlegung der Privatsphäre des Kindes" geben - für die Folgen, die sich ergeben, sei diese "in Kauf zu nehmen".

Voyeurismus im Spiel

Für Lebersorger dagegen ist das eine hoch problematische Herangehensweise: Mag sein, so ihr Gegenargument, dass damit Familien erreicht werden, die sonst in keine Beratungsstellen kämen, "dennoch passiert hier eine Verletzung, ja Opferung der Privatsphäre des Kindes", die wieder psychische Folgen haben könne. Für Lebersorger ist hier "vor allem Voyeurismus im Spiel, der Wunsch unserer Gesellschaft nach Bildern". Auch wenn sich Eltern in ihrer Not an die Öffentlichkeit wenden, hätten die Expertinnen die Pflicht, Kinder zu schützen.

Trotz aller Diskrepanzen sind sich die beiden aber doch in einem Punkt einig: dass Erziehung endlich öffentliches Thema geworden ist. Und sie hätten auch nichts dagegen, gäbe es ein neues Fernsehformat, das Erziehung auf moderne Weise thematisiere. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.06.2006)