Kinga Howorka

ist Diabetologin und Professorin am Zentrum für Biomedizinische Technik und Physik der Medizinischen Universität Wien. Die Schulungsexpertin entwickelte die Funktionelle Insulintherapie FIT, ist Autorin mehrerer Sachbücher zum Thema und veranstaltet regelmäßig Seminare für Ärzte und Therapeuten zur Verbreitung der FIT. Sie leitet eine ambulante Schwerpunktpraxis für Diabetes.

Peter Fasching

ist Stoffwechselexperte und Endokrinologe und Vorstand der Dritten Internen Abteilung mit Kurzzeitpflege des Geriatriezentrums Baumgarten in Wien. Der gebürtige Niederösterreicher habilitierte sich mit einer Arbeit über die Therapie der Insulinresistenz bei Diabetes mellitus, war bis vor Kurzem Geriatriebeauftragter des Wiener Krankenanstalten­verbundes und hat eine Praxis in Wien.

Wie wichtig ist das Engagement des Patienten in der modernen Medizin des 21. Jahrhunderts? Eine Diskussion um Besucher, Meckerer und Klienten mit der Frage, wie man Patienten von Compliance (Therapietreue) überzeugen kann. Standard: Warum halten so wenige Patienten eine vom Arzt verschriebene Therapie ein

Fasching: Es kommt sicher auf das individuelle Problem und den Leidensdruck an. Wenn jemand mit beginnender Diabetes keine akuten Probleme hat, so sieht der Patient häufig nicht ein, warum es wichtig ist, Tabletten zu nehmen, auf die er sich manchmal sogar schlecht fühlt. Die meisten haben eine Abneigung, von Medikamenten abhängig zu sein.

STANDARD: Weil eine Tablette mit Krankheit assoziiert wird?

Fasching: Ja, niemand möchte gern krank sein. Sobald sich jemand besser fühlt, ist die Versuchung groß, die Medikamente zu reduzieren oder ganz wegzulassen. Oft sind aber auch psychische Besonderheiten die Ursache für selbstschädigendes Verhalten. Wir haben bei katastrophal schlecht eingestellten Typ-1-Diabetikern, die immer das Gegenteil tun von dem, was man ihnen sagt, eine Persönlichkeitsstudie gemacht. Und die hat ergeben, dass es hier einen starken Hang zur Autoaggression gibt.

Howorka: Das mag schon sein, dass diese Menschen psychische Eigenheiten haben. Entscheidend sind Fragen, wie man schwierigen Patienten die Therapie selbst in die Hand geben kann, so, dass sie diese leicht umsetzen können und spüren, dass sie auch etwas davon haben. Das hat auch ein bisschen etwas mit Kunst zu tun, wie der Arzt dem Patienten seinen Aktionsradius vermittelt.

STANDARD: Wie funktioniert diese Kunst?

Howorka: In der Medizinerausbildung wird vorausgesetzt, dass in chronischer Therapie die Patienten immer ein Interesse haben, behandelt zu werden, und auch vorhaben, das zu tun, was man ihnen sagt. Das Paradoxe ist, dass dies häufig aber nicht der Fall ist. Manchmal sind Patienten bloße Besucher, sind anwesend, aber mit dem Kopf und ihrer Seele gar nicht da. Andere kommen und erzählen, wie sie leiden. Die meckern über vieles und besonders über therapeutische Ratschläge. Und erst dann gibt es die wirklichen Klienten, die bereit sind, etwas zu tun. Die "Besucher" und die "Meckerer" sind noch gar nicht so weit, ihr bisheriges Therapieverhalten ändern zu können. Die kommen mit katastrophalen Werten, tun so, als ob sie alles wüssten, und trotzdem sind sie nicht in der Lage, etwas zu ändern. Für den Therapeut ist es das Wichtigste zu loben.

STANDARD: Loben?

Howorka: Es findet sich immer etwas, das man ehrlich loben kann, und sei es, dass jemand zur Kontrolle gekommen ist.

STANDARD: Ist das bei Meckerern nicht schwierig?

Howorka: Ja, aber gerade bei denen ist es wichtig. Auch zum Selbstschutz des Therapeuten. Man macht 20 kreative Vorschläge, und alles wird mit "Ja, aber" abgelehnt. Wenn man als Therapeut überleben will, lobt man und spricht über das, was der Patient gut schafft.

STANDARD: So einen Patienten zu einem täglichen Blutzuckerprotokoll zu überreden wäre falsch?

Howorka: Ja, schlicht falsch. Das ist der Punkt. Wenn Patienten das nicht machen, so gibt es triftige Gründe dafür.
Fasching: Die kommen dann tatsächlich auch mit erfundenen Protokollen an, die sie am Vortag rasch zusammengeschrieben haben. Manche zerknüllen sogar das Papier und machen ein paar Blutstropfen drauf, damit es echter aussieht.

Howorka: Ja, die schreiben dann Märchen. Aber so reagieren die Patienten eben auf Therapeuten, die nicht verstanden haben, dass sie einem "Besucher" keine Handlungs-Hausaufgaben geben können. Über Lob, Beobachtungsaufgaben und Konzentration auf die eigenen Ziele kann man erreichen, dass "Besucher" und "Meckerer" schließlich zu wirklichen Klienten werden.

STANDARD: Hängt Compliance damit zusammen, wie hoch der Leidensdruck der Patienten ist?

Fasching: Natürlich wird sich jemand eher an die Therapie halten, wenn er Schmerzen hat. Ein Parkinson-Patient, der sich besser fühlt, wenn er die Pillen nimmt, wird eher bei der Stange bleiben.

STANDARD: Die durchschnittliche Beratungszeit bei einem Kassenarzt beträgt knapp drei Minuten und endet oft mit der Ausstellung eines Rezeptes. Manche Patienten haben dann eine halbe Apotheke zu Hause. Wie sehr trägt denn die allzu rasche Verschreibung von Pillen zur mangelnden Compliance bei?

Fasching: Klar kann sich da einiges ansammeln. Wenn ein übergewichtiger Mensch mit mäßig erhöhtem Blutdruck und Blutfetten, grenzwertig erhöhtem Blutzucker und Harnsäure kommt, ließe sich aus jeder einzelnen Tatsache eine Medikation ableiten. Zusätzlich wäre dann vielleicht auch noch ein Magenschutz gut, damit dem Betroffenen von den vielen Medikamenten nicht schlecht wird, und vielleicht auch ein Antidepressivum, weil er traurig ist, dass er so viele Mittel nehmen muss. Da ist zwar jede einzelne Maßnahme evidenzbasiert und argumentierbar, aber das Gesamtergebnis ist dennoch absurd. Hier wäre es wesentlich sinnvoller, sich auf ein Ziel zu einigen, beispielsweise die Gewichtsreduktion.

Howorka: Und zwar möglichst früh. Es bringt nichts, wenn wir die Patienten nach einem Herzinfarkt mit Informationen überschütten, sondern wir müssen, wenn Patienten übergewichtig sind, erhöhte Blutdruck- oder Zuckerwerte haben, viel früher ansetzen. Das ist Teil des Paradoxons unseres Gesundheitssystems. Es wird den Patienten letztlich beigebracht, wie sie die Dialyse überleben können - nur wie sie was von Beginn an vermeiden können, das nicht. Informierte Patienten würden große Teile der Therapie selbst übernehmen.

STANDARD: Was aber, wenn die Patienten bereits einen Herz- infarkt hatten und dann beispielsweise trotzdem weiterrauchen?

Fasching: Das ist natürlich anzusprechen. Die Frage ist, warum tun sie es dann? Wir haben im Pflegeheim zwei wegen Raucherbein Fußamputierte, die ständig im Rollstuhl zum Raucherkammerl fahren. Da könnte man sagen, die sind so mit ihrer Sucht geschlagen, dass ohnehin schon alles zu spät ist. Aber dennoch muss man nach den tieferen Ursachen suchen: Ist es eine Stresssituation, mit der die Leute nicht fertig werden, oder ist es eine dahinterliegende Depression.

STANDARD: Ältere Patienten leiden an vielen Krankheiten. Kann man denn von sinnvoller Compliance sprechen, wenn ein Patient 15 Tabletten nehmen muss? Oder sollte hier zunächst mal aus der Vogelperspektive gesehen werden, was eigentlich davon sinnvoll ist, sodass diese enorme Zahl reduziert wird?

Howorka: Die individuelle Therapie kann sicher optimiert werden. Aber bleiben wir bei dem, was real durchführbar ist. Das sind Menschen mit vielen Krankheiten und Beschwerden. Durch das Reden im Sprechzimmer, auch wenn es zwanzig Minuten dauern sollte, wird man als Arzt nicht sehr viel erreichen. Und vor allem zahlt das auch niemand. Deshalb muss man Menschen mit ähnlichen Problemen zusammenfassen. Der Arzt kann seine Effizienz um ein Vielfaches steigern, wenn er diese Gruppe an einigen Abenden zu einer strukturierten Schulung zusammenbringt.(MEDSTANDARD/18.06.2006)