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Wir waren jung, aber auch nicht dümmer als manche ältere. Zu jung, um zu den aktiven Achtundsechzigern zu gehören, aber alt genug, um zu provozieren. Die Mao-Bibel kam da gerade recht. Und nicht einmal zum Nulltarif. Im Gymnasium ließ ein Mitschüler die Bestellliste kreisen und schickte sie dann direkt nach Peking. Ein paar Wochen später war die Lieferung da, unter großem Gejohle in der Klasse. Das Brevier jugendlichen Aufbegehrens in handlichem Format und knallrotem Plastikeinband: Gedanken des Vorsitzenden Mao Tse-tung, in tadelloser deutscher Übersetzung. Einen Zwanziger vom Taschengeld war uns das locker wert. Denn mit Mao war man in, damals.

Im Bücherschrank meines Zimmers im Elternhaus steht sie heute noch, die Mao-Bibel, neben dem Stowasser. Erinnerung an eine Zeit, als Mao der Held der jungen Generation im Westen war. Vor 40 Jahren, im Mai 1966, rief er die Große Proletarische Kulturrevolution aus. Was als legitime Jugendrevolte gegen eine verknöcherte Bürokratie ausgegeben wurde, war in Wahrheit ein Instrument zur Machtabsicherung, zur Säuberung des gesamten Parteiapparats von potenziellen Widersachern, zur Einschüchterung des Volkes.

Drei Millionen

Während der zehn Jahre der Kulturrevolution bis zu ihrem Ende mit Maos Tod 1976 starben in China mindestens drei Millionen Menschen eines gewaltsamen Todes. Und hundert Millionen Chinesen, ein Neuntel der Gesamtbevölkerung, litten auf die eine oder andere Weise unter den Verfolgungen, die meisten nicht einmal durch die Roten Garden, Maos Prätorianergarde, sondern durch Handlanger des Regimes, das Mao hinter dem propagandistischen Schutzvorhang der neuen Revolution umbaute.

In China wurde der Jahrestag des Beginns der Kulturrevolution mit Schweigen übergangen. Das riesige Mao-Porträt hängt wie eh und je über dem Eingang zur Verbotenen Stadt am Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Im nahen Mausoleum liegt der einbalsamierte Leichnam des Mannes, der nach Schätzungen 70 Millionen Menschen auf dem Gewissen hat.

Kommunistische Parteigründung

Andere Jahrestage der weiterhin gültigen offiziellen Staatsideologie wird die chinesische Führung mit großem Pomp feiern. Schon demnächst, am 1. Juli, gedenkt man der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas vor 85 Jahren in Schanghai. Im Oktober folgt dann der 70. Jahrestag des Endes des "Langen Marsches", mit dem Mao seine Macht begründete.

Auf diesen Marsch trifft geradezu beispielhaft und durchaus wortwörtlich zu, was Manès Sperber in seiner berühmten und beklemmenden Romantrilogie "Wie eine Träne im Ozean" über Denken und Handeln stalinistischer Parteiführer - und wohl aller skrupellosen Machtmenschen - schreibt: "Sie waren die Genies des Umwegs. Sie verbrauchten riesige Mittel - und Menschen waren auch nur Mittel -, sie mussten überdies darauf bestehen, unfehlbar zu sein und anderen die Verantwortung für die Fehler aufzulasten. Sie mochten auch auf ihren langen Umwegen das eigentliche Ziel vergessen, es kam nicht darauf an, sie blieben davon überzeugt, dass, wenn die Schlauheit sich mit der Gewalt paarte, sie jeder Macht überlegen war."

Mao auf dem Langen Marsch

Wer das Buch von Jung Chang und Jon Halliday gelesen hat, muss glauben, Sperber habe bei diesen Worten niemand anderen als Mao auf dem Langen Marsch im Sinn gehabt. Das trifft sicher nicht zu, doch gibt es immerhin Übereinstimmungen. Der Lange Marsch fand in jener Zeit statt, in der auch Sperbers Roman handelt; und Stalin war nicht nur das Vorbild der kommunistischen Parteiführer im Europa der Zwischenkriegszeit, sondern auch jenes von Mao - und bald auch dessen Rivale im Kampf um die Vorherrschaft in der kommunistischen Welt.

Mit dem Langen Marsch legte Mao sein Gesellenstück als Genie des Umwegs vor. Zwei Jahre lang führte der militärisch völlig unerfahrene Parteifunktionär sein Truppenkontingent im Kampf gegen die Nationalisten von Chiang Kai-shek teils im Kreis, trieb sie in selbstmörderische Gefechte ohne offensichtlichen strategischen Sinn, nahm bewusst Niederlagen mit enormen Verlusten in Kauf. Nach einem Umweg von 2000 Kilometern waren von den ursprünglich 80.000 Mann der Roten Armee noch 10.000 übrig, aber Mao hatte erreicht, was er wollte: Mittels eines Strohmannes hatte er die Parteiführung fest im Griff, ein gefährlicher Gegner, der populäre Chang Kuo-tao, Führer der zweiten kommunistischen Armee, war entscheidend geschwächt.

Winziger Vorgeschmack

Die 70.000 Mann Verluste aber waren nur ein winziger Vorgeschmack auf das künftige Wirken Maos. Während des "Großen Sprungs nach vorn" ab 1958 sagte er: "Wenn wir so vorgehen, mit all diesen Projekten, kann es gut sein, dass die Hälfte Chinas sterben muss." Im Jahr davor hatte er während seines Moskau-Besuchs erklärt: "Wir sind bereit, 300 Millionen Chinesen für den Sieg der Weltrevolution zu opfern." Da war Stalin schon vier Jahre tot, und Mao witterte die Chance, sich zum Weltführer des Kommunismus aufzuschwingen. Der Große Sprung war ein wahnwitziges Industrialisierungsprojekt, in dem beinahe jedes Dorf seinen Mini-Hochofen betreiben musste. Die Vernachlässigung der Landwirtschaft mündete in eine Hungerkatastrophe mit geschätzten 38 Millionen Toten.

Jung Chang, ein Kind hoher chinesischer KP-Kader und zeitweise selbst Mitglied der Roten Garden, und ihr britischer Ehemann Jon Halliday haben sich den Vorwurf eingehandelt, ihr Buch sei nicht distanziert genug und von einem parteiischen Grundton gegen Mao getragen. Das mag stimmen. Warum ist in keiner der zitierten Äußerungen Maos so etwas wie menschliches Mitgefühl zu erkennen? Gab es solche Äußerungen tatsächlich nicht, oder haben die Autoren sie weggelassen, weil sie nicht in ihr Konzept passten? Letzteres ist angesichts der Fülle gut dokumentierter Fakten schwer vorstellbar. So bleibt das Bild eines absolut skrupellosen Genies des Umwegs, dem es zu jeder Zeit nur um die Macht ging. Ein unter dem psychologischen Aspekt freilich etwas blasses Bild, denn das Phänomen Mao wird nicht wirklich befriedigend ergründet. Aber das ist letztlich wohl eine unlösbare Aufgabe.

Sozialistische Fürze

Was der Politiker Mao vom Sozialismus hielt, als dessen wahrer Gralsritter er im Westen lange verehrt wurde, enthüllt indes ein knappes Zitat aus dem Jahr 1955: "Meine Fürze sind sozialistische Fürze, sie müssen wohlriechend sein." Steht meine Mao-Bibel deshalb hinter Glas? (DER STANDARD, Printausgabe 17./18.6.2006)