Aminata Dramane Traoré (64) ist eine der führenden linken Stimmen Afrikas. Die Globalisierungskritikerin organisierte das diesjährige Weltsozialforum in ihrer Geburtsstadt Bamako. Sie studierte Psychologie in Frankreich, schrieb mehrere Bücher, war eine Koordinatorin der UN-Entwicklungs-
hilfeorganisation UNDP und von 1997 bis 2000 Kulturministerin in Mali.
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Standard: Was bedeutet den Afrikanern Europa?

Aminata Traoré: Ich antworte Ihnen mit einer Gegenfrage: Welches Afrika? Es gibt das Afrika der Entscheidungsträger nach dem Modell Europas. Ginge es nur nach ihnen, sollte man Europa einfach auf Afrika übertragen. Sehen Sie sich die Investitionen hier an, die Art der Entwicklung, der Städte, die man zu bauen versucht, die Art der Ausstattung in den Wohnungen. Alles ist importiert.

Wir leben heute in einem materiellen Umfeld, das absolut gar nichts mit dem zu tun hat, was wir selbst hätten erreichen und der Welt geben können. Unsere politischen und intellektuellen Eliten liegen völlig daneben. Es gibt ein anderes Afrika. Das normale Afrika, das Afrika auf dem Land, das Europa nur vom Fernseher kennt und von den Regierenden hier, die ihre Zeit damit verbringen, den Europäern Danke zu sagen. Es ist diese Kultur des "Danke sehr", die hier Probleme schafft. Wir sind ja so zufrieden, Danke sagen zu können.

Standard: Was genau verstehen Sie unter dieser "Danke-Kultur"?

Traoré: Sie ist der Gegensatz zur Kultur des Nein. Wenn Sie anfangen, Nein zu sagen, treffen Sie eine Wahl: Ich will dieses, aber nicht jenes. Sagen Sie aber zu jedem Projekt Ja, weil es eine Chance ist, Geld zu bekommen, kritisieren Sie nicht mehr. Wir schaffen hier eine mimetische Kulisse, wir imitieren Europa und wir hängen von Europa ab.

Standard: Es gab ja afrikanische Führer, die ihre Herrschaft auf die Losung "Zurück zur eigenen Kultur" begründet haben. Der Diktator Mobutu zum Beispiel, der seinen Kongo in Zaire umbenannte.

Traoré: Mobutu ist wohl nicht das richtige Beispiel. Ich denke eher an Patrice Lumumba, den man umgebracht hat. Die Saat der Instabilität, der Verarmung, der Auswanderung ist vor langer Zeit gesät worden. Alle afrikanischen Führer, die eine Persönlichkeit und eine politische Vision hatten, wurden ausgeschaltet: Patrice Lumumba im Kongo, Thomas Sankara in Burkina Faso, vor ihm alle nationalen Führer in meinem Land, Mali. Modibo Keita (Sozialist und Malis erster Präsident, 1968 vom Militär gestürzt, Anm.) hat mich geprägt.

Ich bin, was ich heute bin, weil ich diesen Mann gesehen habe. Wir wären in der Lage gewesen, unser Land selbst zu entwickeln. Doch Keita wurde zum Diktator abgestempelt und von Frankreich fallen gelassen. Er wurde unbeliebt, weil er die Grenzen schloss und die Frauen und Kinder der Reichen ihr Nestlé nicht mehr trinken konnten statt unserer Milch. Die wirtschaftliche Sabotage der Afrikaner, die in den 60er-Jahren Visionen hatten, durch den Westen ist vergessen.

Standard: Was erwarten Sie heute von Europa?

Traoré: Europa hat die Pflicht, die Wahrheit zu sehen. Ich möchte den Respekt der Europäer vor Afrika. Ihr Geld interessiert mich nicht. Jeder glaubt, wir hätten versagt. Doch wir haben versucht, Neues aufzubauen und sind auf halbem Weg gestoppt worden. Man hat uns erst in die Verschuldung getrieben, dann die Politik der Strukturanpassung des Internationalen Währungsfonds aufgezwungen und sagt uns jetzt: Seid demokratisch, organisiert Wahlen. Aber was nützen Wahlen, wenn derjenige, der dann an die Macht kommt, keinen Spielraum für seine Politik hat?

Er erhält seine Anweisungen vom IWF und der Europäischen Union. Und was will die EU? Sie organisiert sich in einem Club der 25 und will weiter die Ressourcen Afrikas nutzen. Sie hält sich gewählte Führer in Afrika, die das neoliberale Dogma akzeptieren müssen, obwohl es in Europa eine Debatte und eine Wahl gibt: der völlig freie Markt oder eine soziale Wirtschaft. Afrika hat die Chance einer solchen Wahl nie bekommen.

(DER STANDARD, Printausgabe, 17./18. 6.2006)