München - Gegangen ist an diesem Abend nur ein Pärchen mittleren Alters - leise und zügig verließ es den Münchner Marstall just zu dem Zeitpunkt, als die vier Männer auf der Bühne ihren Trieben freien Lauf ließen: Sie onanierten, hantierten mit Dildos, schmierten sich mit Gleitcreme ein und räkelten sich unter großem Gestöhne in ihren Ohrensesseln.

Eine Stunde später: Schlussapplaus, eher mäßig. Bis der Verantwortliche des Abends auftaucht. Da gibt es Buhs. Der so Angegriffene goutierte es mit kämpferisch gezücktem Mittelfinger. Was war geschehen? Franz-Xaver Kroetz, Bayerns unheiliger Schrecken der 60er- bis 80er-Jahre, hat ein neues Stück verfasst, darin wenig von seinem früheren Biss verloren und als sein eigener Regisseur dafür gesorgt, dass wirklich jeder Schweinkram im Text auch wirklich stattfindet.

Tänzerinnen und Drücker - ein TV-Massaker besteht aus zwei ordentlich gebauten Einaktern, es gibt jede Menge Zoten und Scherzchen und die für Kroetz typische sprachliche Derbheit. Die "Drücker" sind vier libidinös gesteuerte Männer, sie sitzen vor Fernsehapparaten und konsumieren Sexfilme. Zuvor haben sie sich durchs Programm gedrückt, dabei stießen sie auf Talkshows ("Sandra Scheißberger"), jede Menge Werbung und US-Serien.

Weil das alles aber auf Dauer nicht befriedigt, fantasieren sich die vier in immer groteskere Gewaltorgien hinein. Wenig später kippt die Situation ins Fast-Normale: Man liest chorisch das laufende Fernsehprogramm oder rezitiert tautologische Politikerphrasen, die über den imaginären Bildschirm flimmern. Dabei werden die Wahlaufrufe ziemlich eindrucksvoll "zerturnt".

Thesen und Tempi

So schnell wie die Protagonisten von einem Kanal zum anderen zappen, so hektisch wechselt Kroetz seine Themen und Tempi, alles kreist jedoch letztlich um den einen zentralen Wunsch, gehört zu werden, mit dem Fernsehpersonal einen Austausch zu haben und als Individuum wahrgenommen zu werden.

Wie die "Drücker", so schreien auch die "Tänzerinnen" nach Aufmerksamkeit. Es sind drei alt gewordene Nachtschwalben: ein Ex-Pornostar mit falschen Brüsten und echtem Schoßhund (ein Mops!), ein trist aufgetakeltes Häuflein Mensch (Jennifer Minetti) und eine Querulantin im Rollstuhl (Sibylle Canonica). Ihre Gespräche drehen sich um das schlechte Essen im Heim, die Talkgäste von Jürgen Fliege und um die unwiderruflich verlorene Jugend. Wie heruntergekommene Macbeth-Schwestern fluchen die drei auf alles, was jung und frisch ist. Ruhiger und weniger "verzappt" ist dieser Schwanengesang des Altenheim-Trios, das am Ende nur noch sterben will - und nicht mal dazu ohne fremde Hilfe in der Lage ist. So verharren die drei einfach auf ihren Stühlen, während das Licht ganz langsam erlischt.

Kroetz erweist sich in seinem neuen Stück als zorniger Alter, dem es noch immer konkret um etwas geht: An die Stelle der Gesellschaftskritik setzt er das Fernsehen als diabolische Macht, die den Einzelnen seines Selbst beraubt.

Am Premierenabend versuchte ein deutsches TV-Team verzweifelt vom Publikum zu erfahren, ob es diese Kritik teilt. Nur wenige äußerten sich: Das ist wahre Dialektik. Kroetz will übrigens nie mehr schreiben ... (DER STANDARD, Printausgabe, 13.6.2006)