Der Komponist György Ligeti schätzte zwar Joseph Haydn und Ludwig van Beethoven. Mit seinen vielschichtigen Kompositionen jedoch revolutionierte er die Musik des 20. Jahrhunderts.

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Wien - Als sich das Festival Wien Modern in den 80ern anschickte, mit retrospektiven Methoden erstmals das Wesentliche des musikalischen 20. Jahrhunderts nacherzählend aufleben zu lassen, wurde György Ligeti natürlich gleich eine Personale gewidmet. Da gab es Ligeti in Wort und Ton - und beides war von frappanter Originalität. Wenn man hörte, wie Ligeti über die polyrhythmische Kunst Afrikas sprach, stand man vor einer Komplexität des Denkens, die sich auch in seinem Werk niederschlug.

Afrikanische Einflüsse gab es in Ligetis Poème symphonique, auch beim Klavierkonzert, einem Werk, das Ligeti zu Beginn der 80er-Jahre aus einer heftigen Schaffenskrise führte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon einen langen Weg hinter sich - künstlerisch wie biografisch.

Als ungarischer Jude 1923 in Dicsoszenmárton (in Siebenbürgen, heute Rumänien) geboren, verlor er Bruder und Vater in NS-Konzentrationslagern, seine Mutter traf er 1945 wieder. In der ungarischen Armee musste er Arbeitsdienst verrichten. Und er durfte wegen einer Numerus-clausus-Regelung für Juden nicht Physik studieren. Später tauschte er gewissermaßen eine Diktatur gegen eine andere, die kommunistische, der er 1956 nach Wien entfliehen konnte - "mit einer Aktentasche, mit einigen Partituren und einer Zahnbürste", wie er später erzählte.

Ligetis Musikweg führte ihn über die Aufarbeitung der frühen, romantisch geprägten Moderne zu der Begegnung mit der westlichen Avantgarde, also mit Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono; es war ein Zusammentreffen, das durch eine Einladung an das Studio für elektronische Musik in Köln möglich wurde.

Musikalisch bewegt sich Ligeti bald in komplexen Regionen der Elektronik und Mikropolyphonie. Das entsprechende Werk, Atmosphères, in dem kleine Elemente spinnennetzartig zu auratischen Klanggebilden verwoben wurden, schrieb er in einem Kaffeehaus in der Taborstraße, einem öffentlichen Ort, der zwar - wie seine Wohnung - kein Klavier hatte, aber immerhin geheizt war.

Mit Atmosph`eres, das auch eine kritische Auseinandersetzung mit der letztlich als zu rigid und dogmatisch empfundenen seriellen Technik war, gelang Ligeti der Durchbruch als Komponist.

Ein anderer Ansatz später bei Aventures: Da steht man vor einem imaginären Theater, vor erstaunlich unmittelbar wirkenden vokalen Minidramen - bestehend aus Kunstsprache. Und wiederum anders die 80er-Jahre: Die Begegnung mit afrikanischer Polyrhythmik animiert Ligeti zu einer rhythmisch-metrischen Komplexität, die man auch bei seinen Etüden erlauschen kann, die harmonisch punktuell eine Annäherung an die Tradition vermitteln.

Bei aller Komplexität prägt Ligetis Werk eine Aura der Sinnlichkeit, eine "Zugänglichkeit", die ohne kommerzielle Zugeständnisse als unmittelbare Wirkung schlagend wird. Es wundert nicht, dass Filmregisseur Stanley Kubrick Ligetis Musik für seinen Film 2001 - Odyssee im Weltraum eingesetzt hat. Das Anekdotische: Die Musik wurde ohne Ligetis Wissen eingesetzt und nicht bezahlt. Später gab es eine Überweisung von 3000 Dollar. Ligeti schätzte Kubrick dennoch.

Imposante Lösungen

Sich selbst hielt er für einen langsamen Komponisten, aus seinen Selbstzweifeln machte er keinen Hehl - sie sind wohl auch die Quelle jener künstlerischen Wandlungsfähigkeit, die Ligeti ausgezeichnet hat. Wenn sie in Ungarn eine Straße nach ihm benennen wollten, dann, so Ligeti einst zum STANDARD, sollten sie diese György-Ligeti-Irrweg nennen. Nun, auch Irrwege führen offenbar zu sich selbst und zu imposanten künstlerischen Lösungen.

Ob der Weg zu sich selbst für ihn schwerer war als für Kollegen wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez, konnte er nicht eindeutig beantworten. Allerdings: "Diese tägliche Zermürbung durch Lügen und Spionage hatten sie nicht erleiden müssen. 1949 hatte man von mir verlangt, neun Katholiken zu denunzieren. Ich habe nicht mitgemacht, auch auf die Gefahr hin, eingesperrt zu werden. Es hatte keine Folgen, damals war die kommunistische Diktatur noch nicht richtig etabliert. Aber mit solchen Sachen musste ich mich herumschlagen!"

György Ligeti ist am Montag nach langer, schwerer Krankheit in Wien gestorben. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.6.2006)