New Madrid, Portfield, Portola Valley. Nicht gerade Orte, die Amerikareisende besuchen. Dabei haben sie eines gemeinsam - die akute Gefährdung durch Erdbeben. In New Madrid am Mississippi haben Geologen eine ungewöhnlich hohe seismische Aktivität ermittelt und daraus den Schluss gezogen, dass sich dort die Nordamerikanische Platte in zwei verschiedene Platten aufzuteilen versucht.

Portfield in Kalifornien verfügt über die größte Dichte an seismografischen Messgeräten. Und der 1964 gegründeten Kleinstadt Portola Valley im Einzugsgebiet von San Francisco droht ein Schicksal wie einst der Hügel-Metropole am Pazifik selbst: die völlige Einebnung. Liegt doch dieser Ort unmittelbar auf der San-Andreas-Verwerfung. Diese Trennlinie zwischen der Nordamerikanischen und der Pazifischen Platte, die auf der Erdkruste schwimmen und aneinander drücken und reiben, ist, so ihr Historiograf Simon Winchester, "ungefähr zwölfhundert Kilometer lang. Sie verläuft in einer Krümmung etwa in der Form eines Bumerangs von einer instabilen Felsenklippe in Humboldt County im feuchten und windigen Norden Kaliforniens hinunter bis zu einem schlammigen Feld neben einer zischenden geothermischen Anlage bei den streng bewachten Zäunen an der mexikanischen Grenze." Die Platten bewegen sich um 3,5 Zentimeter pro Jahr. Hat sich unter und zwischen diesen Kontinentalplatten überstarker Druck angesammelt, entlädt sich dieser ruckartig.

Dieser Rückprall erzeugt an der Oberfläche ein Erdbeben. Wie jenes um 5.12 Uhr am 18. April 1906 in San Francisco, laut Simon Winchester "die erste weltweit wahrgenommene Katastrophe". Winchester, ein in Oxford ausgebildeter Geologe und viele Jahre als Reporter und Auslandskorrespondent in Ostasien tätig, hat bereits mit den Themen seiner letzten Bücher Eine Karte verändert die Welt und Krakatau. Der Tag, an dem die Welt zerbrach an seine Ursprungsprofession angeknüpft. Mit seiner jüngsten Monografie, in deren Mittelpunkt der 18. April 1906 steht und das Schicksal der Stadt San Francisco, etabliert er sich endgültig als Katastrophenexperte. Wer allerdings Voyeuristisches bei ihm sucht, Plakativ-Naives oder auch Langweiliges, ist hier falsch.

Winchester verfügt über ein ausgeprägtes Erzähltalent und einen ausgeprägten Sinn für Dramaturgie. Sein Erzählfluss beginnt in Island und im 18. Jahrhundert und endet 2005 in Alaska. Plastisch vermag er die durchaus komplexen Vorarbeiten und Wirrnisse um Entstehung und Fortgang der Erkenntnisse der älteren Geologie zu schildern. Seine wissenschaftlichen Ausführungen über die Vorgeschichte wissenschaftlicher Theorien und Thesen reichert er mit lebendigen Kurzporträts pittoresker Forscher an. Persönliches, Reiseimpressionen etwa - immerhin hat er den nordamerikanischen Kontinent für Recherchezwecke zweimal mit dem Auto durchquert: einmal von Ost nach West und dann halbkreisförmig von San Francisco über Alaska quer durch Kanada zurück nach Massachusetts -, verbindet er geschickt und angenehm lesbar mit Essayistischem, mit Historischem sowie mit Querverweisen auf Religion, Politik und Stadtplanung.

"Als ich die Stadt sah", so Winchester über seinen ersten Eindruck von San Francisco, "die mit ihren funkelnden Spitzen und glitzernden Scheiben wie ein wohlbehütetes Schmuckkästchen auf der winzigen Halbinsel thronte, fiel mir vor allem eines auf, nämlich wie überraschend fragil das Ganze war." Das Erdbeben traf vor 100 Jahren die Stadt unvorbereitet. Die wenigen Betonbauten überstanden das Erdbeben weitgehend unversehrt. "Ansonsten jedoch", so Winchester, "war San Francisco ein Spielplatz des Teufels. Die zahllosen unbewehrten Ziegelbauten, die endlosen Straßenzüge mit windigen Holzhütten (die, wie eine Versicherungsgesellschaft es formulierte, "rasch zusammengezimmert" worden waren, um an den Mann gebracht zu werden) und die vielen Gebäude, die in aller Eile auf Aufschüttungsgelände errichtet worden waren (meist ehemalige Bachtäler und Flussbetten, die man zugeschüttet hatte, um Bauland zu gewinnen), wurden in Sekundenbruchteilen dem Erdboden gleichgemacht. Wasserleitungen barsten, Hydranten waren ohne Wasser, Hochspannungsleitungen knickten ein, Kamine stürzten zusammen, Gasrohre brachen, Brennstofftanks barsten, Feuer brach aus. 28.188 Gebäude wurden zerstört. 3000 Menschen starben. Von den 400.000 Einwohnern waren 225.000 obdachlos.

Von diesem Schlag erholte sich die Stadt äußerlich verhältnismäßig schnell. Schon zwei Tage später, berichtet Winchester, lief die Aufbaukampagne für Kaliforniens Metropole an, das damals noch immer im Ruch eines Sündenbabels stand, wofür es bestraft worden sei. Das meinten zumindest religiöse Sekten, die damals stark an Zulauf gewannen. Die Pfingstbewegung etwa fasste damals richtig Fuß, ist seither stetig angewachsen und nimmt heute sogar Einfluss auf die Bundespolitik. So ist das Beben von 1906 keineswegs nur Historie. Der U.S. Geological Survey hat 2003 ein Erdbeben im Raum San Francisco für die kommenden 30 Jahre vorhergesagt, mit verheerenden Folgen. Und entsprechend nachdenklich fällt auch Simon Winchesters Fazit aus. "Die Geologie", schreibt er, "ruft uns ins Gedächtnis, dass nur durch die Duldung des Planeten Orte wie die Berge von Montana und Wyoming existieren und Städte wie New Madrid, Charleston, Anchorage, Banda Aceh und San Francisco für eine gewisse Zeit bestehen. Sie gemahnt uns auch daran, dass diese Duldung ein Privileg ist, das jederzeit und ohne jede Vorwarnung widerrufen werden kann." (Alexander Kluy/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10. - 11. 6. 2006)