Die Potemkin Treppe.

Foto: wikipedia.org

Foto: Photoglob AG, Zürich/wikipedia.org

Der alte Admiral im grauen Fischgrätmantel schlingert kein bisschen. Breitbeinig stapft er übers blank polierte Parkett, nimmt kurz entschlossen Kurs aufs fremde Canon-Bullauge. Ausgesprochen massig steht er da inmitten seiner Hochseeflotte aus stolzen Dreimastschonern und bunt gelackten Schwarzmeerdampfern. Dann das Gefecht: Breitseiten werden abgefeuert. "Njet!" und "Klick!" Im Deckenstuck reflektieren Fotoblitze, verhallen Museumswärter-Kommandos: "Keine Fotos hier, Towarisch, sonst fliegst du raus!"

 

Es gibt schlechtere Ecken sich dem mitunter rauem Charme Odessas anzunähern als das Nautische Museum. Die Hoheitsgebiete sind hier längst abgesteckt: Schiffsmodelle vergangener Epochen erleben eine Flaute unter Glasverschluss - ähnlich der patinierte Rest der Hafenstadt, die sich hier zwischen Meer und Steppe, zwischen Dnjestr-und Dnjeprmündung, vor allem aber zwischen unterschiedliche Völker schiebt.

Ukraine bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie Grenzland, und so erscheint auch Odessa wie eine weit vorgeschobene Bastion europäischer Zivilisation. Cimmerische, skythische, samaritanische Kulturen etablierten ab dem sechsten vorchristlichem Jahrhundert hier Niederlassungen, es folgten Goten, ostslawische Stämme, um 600 n. Chr. die Hunnen. Und 1794 kamen russische Architekten, um im Rahmen des "Projekts für die Hafenstadt Chadshibei" erste Pfähle ins Erdreich zu rammen, die dem Zarenreich Katharinas II. einen neuen Handelsposten erschließen sollten. Eine - nach damaligen Maßstäben - moderne Reißbrettstadt entstand, deren zugrunde liegender urbane Raster räumliche Capricen ausschließt.

Odessa mauserte sich zur Schwarzmeer-Metropole mit internationalem Flair. Klar, dass auch die Künstler kamen: Alexander Puschkin weilte hier im Exil, später Anton Tschechow. 1905 schlug das freigeistige Klima, vielleicht auch das Temperament der Mischbevölkerung, in Revolution um, deren dramatische Ereignisse Sergej Eisenstein im Stummfilm-Epos "Panzerkreuzer Potemkin" eindrucksvoll verfilmte. Schnitt.

 

Kino auf höchster Stufe

Odessa anno 2006: Im weit gefassten Hafenbecken reiben sich Marine und Antarktis-Walfangflotte friedlich aneinander. Dutzende Lastkräne verdichten sich zum Eisendschungel mit Stahllianenbehang. Der seidenmatte Glanz aus alten Tagen wird erst oberhalb der steilen Uferböschung sichtbar. Große und kleine Treppen führen dorthin. Die größte und schönste gilt seit jeher als erklärtes Wahrzeichen der Stadt. Ursprünglich aus grünlichem Sandstein gefertigt, lassen die nunmehr grauen Granitstufen der "Potemkin-Treppe" den Aufstieg infolge perspektivischer Täuschung - die Treppe verjüngt sich nach oben hin - mühevoller und länger, die oberhalb thronende Altstadt noch entrückter erscheinen. Von Sergej Eisensteins cineastischen Sequenzen keine Spur: Skatebord-Kids ersetzen den legendären, rollenden Kinderwagen. Militärs am Treppenabsatz schlecken Vanilleeis mit Knusperwaffel.

Primorskij Bulvar - Seepromenade - heißt die elegante Flanierzeile, die gezählte 193 Potemkinstufen oberhalb des großen schwarzen Wassers beste Panoramablicke garantiert - und neben den Engelshäuptern und Dämonenfratzen der 150 Jahre alten Häuser auch etwas über Odessa Vitalität erzählt. Etwa in Form einer Braut, die soeben hoch zu Ross, und keck, Richtung Oper trabt - Landessitte. Und in Form eines Bräutigams, der ihr dabei dicht auf den Fersen ist - aber nicht zu Fuß. Am Steuer einer dicken, schwarzen Limousine rollt er hinterher mit schäumender Sektflasche in der freien Hand.

 

Götzen aus Stein

Eine Liaison war Odessa freilich schon immer. Das von einem ukrainisch-schweizerischem Jointventure-Management restaurierte, ursprünglich im Renaissance-Stil errichtete, luxuriöse Grand Hotel "Londonskaya" führt dies nun auf seine Weise fort. Und auch die ältesten Ahnen sind noch da: Pummelige Steingötzen wachen über das bereits 1825 eröffnete Archäologische Museum, mit rund 150.000 Exponaten, darunter zahlreichen Ausgrabungsfunden von der nördlichen Schwarzmeerküste, das interessanteste Museum vor Ort. Eleganter als das dicke, kleine Männchen heidnischer Tage sind trotzdem die elfenhaften Interpreten des gegenüber situierten Opern- und Balletttheaters. Bauelemente des Wiener Barocks, der italienischen Renaissance und des französischen Rokoko verschmolzen in diesem, nach Plänen der Wiener-Ringstraßen-Architekten Helmer & Fellner entstandenen Baujuwel zu einem Gesamtkunstwerk aus Stuccolustro, Deckenfresko und Ballettröckchen. Abbröckelnde Denkmal-Gliedmaßen, alte gusseiserne Gullydeckel und rostig gewordene Hinterhof-Wendeltreppen zählen ebenso zu diesem lokalen Potpourri wie jene Wasserstoff-Blondies, die an der Deribassowskaja, der zentralen Einkaufsstraße Odessas fürs Familienalbum posieren. Ein Stück Kulisse der neuen Zeit auch sie. (Robert Haidinger, Der Standard, Printausgabe 10./11.6.2006)