Der Australier Rowan Gillies (35) ist seit zweieinhalb Jahren Präsident von Ärzte ohne Grenzen

Foto: STANDARD/Andy Urban
Wien - Afghanistan, Sierra Leone, Sudan, Liberia - mit seinen 35 Jahren hat Rowan Gillies in Krisengebieten schon mehr Leid gesehen, als sich viele Menschen überhaupt vorstellen können. Und er hat mehr geholfen. Der Chirurg aus Sydney in Australien ist Präsident der weltweiten Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen und hält sich derzeit in Wien auf, wo am kommenden Montag erstmals eine internationale Jahresversammlung der Médecins Sans Frontières stattfinden wird. DER STANDARD traf Gillies am Freitag im Österreich-Büro der humanitären Hilfsorganisation in Wien-Leopoldstadt zum Interview.

Vogelgrippe versus Aids

Als weltweit größte Herausforderung im medizinischen Sinn bezeichnete Gillies, der seit Jänner 2004 Präsident der ehrenamtlichen Helfer ist, den Kampf gegen Aids. Rund eine Million Menschen, die HIV-positiv oder an Aids erkrankt seien, könnten behandelt werden. "Aber fünf bis sechs Millionen HIV-Positive in Entwicklungsländern erhalten zu wenig oder gar keine Hilfe", kritisierte Gillies. Er fordert Industriestaaten und die pharmazeutische Industrie auf, Strategien zu entwickeln. "Als die Vogelgrippe in westlichen Ländern auftauchte, hat die internationale Staatengemeinschaft ja auch schnell reagiert. Bei HIV brauchen wir auf jeweilige Länder maßgeschneiderte Hilfe", so der australische Mediziner. Und in Richtung Weltgesundheitsorganisation (WHO): "Es gibt keine zentrale Lösung, die in allen Ländern anwendbar ist."Ärzte ohne Grenzen passe Hilfe immer bewusst an unterschiedliche Gegebenheiten an.

Billige Medikamente

Ob Österreich den zu Ende gehenden EU-Vorsitz genutz habe, um die medizinische Versorgung in armen Ländern sowie die Entwicklung billiger Medikamente voranzutrieben, ließ Gillies offen. "Ein halbes Jahr ist zu kurz, um große Veränderungen herbeizuführen", räumte er ein.

Faktum sei, dass immer noch Millionen von Menschen an leicht behandelbaren Infektionen wie Tuberkulose, Schlafkrankheit und Malaria sterben. 90 Prozent von Forschungsgeldern kommen nur zehn Prozent der Weltbevölkerung zugute. Als wichtigen Schritt bezeichnete Gillies eine jüngst von der WHO verabschiedete Resolution, die eine globale Verantwortung für Forschung und Entwicklung im Gesundheitsbereich einfordert. Die Resolution war von Brasilien und Kenia vorgelegt worden.

In manchen Krisenherden muss auch Ärzte ohne Grenzen die Hilfe einstellen. Wie beispielsweise im Irak. "Momentan ist es dort einfach zu gefährlich", sagt Gillies und erinnert an vier Ärzte, die vor ein paar Jahren in Afghanistan "hingerichtet"wurden. Im Irak seien die Kräfteverhältnisse zwischen Politik, Militär und Religion zu instabil. (Michael Simoner, DER STANDARD Printausgabe, 10./11.06.2006)