Bettenhalle in einem österreichischen Notquartier für Asylwerber. Laut jüngster Studie sind die Gutachten zur Feststellung einer Traumatisierung der Werber unzureichend. Ein neuer Leitfaden soll diesen Missstand beseitigen helfen.

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Die für Asylwerber folgenschweren Gutachten über Traumatisierung erfüllen in Österreich oft nicht einmal fachliche Mindeststandards, belegt eine Studie. Ein praxisorientierter Leitfaden zur interkulturellen Trauma-Diagnose soll diesen Missstand beseitigen helfen.

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Bis zum heurigen Jänner galten traumatisierte Asylwerber als besonders schutzbedürftig und durften auch nicht in so genannte sichere Drittstaaten abgeschoben werden. Voraussetzung für die Anerkennung einer Traumatisierung war und ist allerdings ein von ausgewählten Gutachtern erstelltes Attest. Das oft fragwürdige Niveau dieser potenziell lebensrettenden Expertengutachten veranlasste eine Gruppe von Psychologen der Universität Klagenfurt zu einer grundlegenden Kritik und zur Erarbeitung konkreter Verbesserungsvorschläge.

Ein Fazit der zugrunde liegenden Untersuchung, in deren Rahmen auch 150 Asylwerber aus Tschetschenien, Afghanistan und Westafrika befragt wurden: "Wir haben es hier tatsächlich mit einer Gutachtenverwahrlosung zu tun", sagt Klaus Ottomeyer, Leiter der Abteilung für Sozialpsychologie, Ethnopsychoanalyse und Psychotraumatologie der Universität Klagenfurt. "Als Psychotherapeut, der mit traumatisierten Menschen arbeitet, bin ich oftmals mit Gutachten konfrontiert, die sich weit jenseits der erforderlichen wissenschaftlichen Standards bewegen."

So wurde im Rahmen der Studie unter anderem der - wie auch in den anderen analysierten Beispielen anonymisierte - Fall einer Asylwerberin in Österreich untersucht, die in ihrem muslimischen Heimatland von islamistischen Terroristen entführt worden war. Fünf Monate lang wurde sie gefangen gehalten und vergewaltigt. Sie wurde schwanger, konnte fliehen und übergab das Kind ihrer Schwester. Als sie heiratete, verließen sie und ihr Mann aus Angst vor einem Ehrenmord das Land, da bei einer weiteren Geburt bekannt geworden wäre, dass sie bereits ein Kind geboren hatte. Der zunächst verständnisvolle Mann begann sie später als Hure zu beschimpfen und zu schlagen. Die Frau gelangte dann über Umwege nach Österreich und bat um Asyl.

Der Experte "Dr. G."

Vom Unabhängigen Bundesasylsenat in Österreich wurde der Gutachter namens "Dr. G." beauftragt festzustellen, ob die Asylwerberin infolge des Erlebten an posttraumatischer Belastungsstörung leide und ob ihr eine Rückführung ins Heimatland zugemutet werden könne. Im Laufe der Befragung kam der bestellte "Experte" zum Schluss, "dass das Trauma der Begutachteten im Verlust und im Konflikt der (im Heimatland) verbliebenen Tochter liegt und in den daraus resultierenden Schuldgefühlen".

Zwar sei diese Tochter eine Folge der Vergewaltigung, doch wäre es "heute nicht mehr notwendig, die Untersuchende zu dieser Vergewaltigungssituation zu befragen", da diese "offensichtlich derzeit nicht mehr aktuell" sei.

Das erstaunt, da die Frau dem Gutachter auch über quälende Träume und Gefühle berichtete, die auf die Vergewaltigung verweisen. Dazu Klaus Ottomeyer: "Dr. G. nutzt seine Entscheidung zur Nichtbefragung, um die Vergewaltigung für unaktuell zu erklären. Und er rechtfertigt seine Entscheidung mit der Annahme, die Vergewaltigung sei nicht mehr aktuell. Zwar könnte man die Nichtbefragung mit der gutwilligen Absicht begründen, die Frau nicht retraumatisieren zu wollen - dann wäre aber gerade durch die Entscheidung zur Nichtbefragung die Vergewaltigung als Trauma anerkannt."

Aussagen angezweifelt

Tatsächlich habe der Gutachter in seinem eigenen Text die auf eine schwer wiegende kumulative Traumatisierung - Vergewaltigung, Gefangenschaft, Bedrohung mit Ehrenmord, Verlust des Kindes, Angriffe durch den Ehemann - verweisenden Spuren beseitigt. Zwar weist "Dr. G." auf Auffälligkeiten im Umgang der Frau mit Affekten hin, die den klassischen posttraumatischen Symptomen entsprechen, kommt aber nicht zu der Schlussfolgerung, dass sie ein posttraumatisches Belastungssyndrom haben könnte.

Stattdessen beschreibt er sie als unaufrichtig, gegen Ende des Gutachtens wird die Vergewaltigung überhaupt infrage gestellt. Durch "rücksichtsvollen" Verzicht auf die entsprechende Befragung gibt es auch keine Möglichkeit, die Plausibilität der Traumaerzählung zu erkunden.

Diese Vorgangsweise bringt den Psychiater zu folgender Erkenntnis: "Frau F. leidet an einer 'reaktiven Konfliktsituation' - entstanden durch die Verleugnung ihrer außerehelichen Tochter. (...) Eine ,posttraumatische Belastungssituation' durch Entführung und Vergewaltigung seitens islamistischer Terroristen liegt bei der Asylwerberin nicht vor. (...) Aus medizinischer Sicht ist eine Rückkehr in das Heimatland zumutbar (...)"

Ein Gutachten, gespickt mit logischen Ungereimtheiten und Vorurteilen gegenüber dem Opfer also, bei dem es sich nach Darstellung von Klaus Ottomeyer um keinen Einzelfall handelt. Wie aber kann es dazu kommen?

"Eine Ursache", erklärt Ottomeyer, "ist sicher die zeitliche und emotionale Überforderung der Mitarbeiter in den Bundesasylämtern und im Bundesasylsenat, wo sich die unbearbeiteten Akten stapeln." Da liege es dann nahe, die Entscheidung über die Schutzwürdigkeit eines Flüchtlings an Ärzte beziehungsweise Psychiater zu delegieren, deren Gutachten dann aus Zeitmangel auch nicht mehr kritisch überprüft werden.

Außerdem seien traumatisierte Flüchtlinge eine "Zumutung" für die Psyche, die unbewusste Abwehrmechanismen in Gang setzen könne: "Man will sie loswerden, weil sie Zeugen furchtbarer Zustände sind und damit unser Urvertrauen in die Welt unterminieren", ist der Psychologe überzeugt.

Zu all dem komme auch noch die Konkurrenzangst um finanzielle Unterstützung, die von bestimmten politischen Parteien bewusst geschürt werde. Diese "spontane Tendenz zur Einfühlungsabwehr", die oft zu einer Generalverdächtigung von Flüchtlingen als Simulanten führt, mache auch vor jenen nicht Halt, die beruflich mit traumatisierten Flüchtlingen zu tun haben: "Nur kann man von ihnen nach dem heutigen Stand der Professionalisierung erwarten, dass sie ihre eigenen Abwehrreflexe reflektieren", meint Wissenschafter Klaus Ottomeyer. "Deshalb müssten vor allem für Gutachter Supervisionen und entsprechende Fortbildungen selbstverständlich sein."

Kulturelle Spezifika

Tatsächlich können viele der als Gutachter tätigen Mediziner und Psychiater weder eine spezielle Ausbildung in Psychotraumatologie noch die nötige - etwa von der Berliner Ärztekammer längst geforderte - Supervision und Weiterbildung nachweisen. Einen weiteren Grund für die grassierende "Gutachtenverwahrlosung" sieht Projektleiter Walter Renner in der Ausblendung der kulturspezifischen Problematik bei der Feststellung von Psychotraumata: "Eine ausschließlich testpsychologische Untersuchung der Asylwerber ist völlig unzureichend. Um ein fachlich akzeptables Gutachten erstellen zu können, müssen ausführliche klinische Gespräche geführt werden, bei welchen auch die kulturspezifische Ausprägung der jeweiligen Symptomatik zu beachten ist - das heißt, es müssen für jede ethnische Gruppe geeignete Diagnoseinstrumente eingesetzt werden sowie die spezifischen kulturellen Hintergründe bekannt sein."

Wer aber kann dieses Wissen einbringen? "Hier ist eine Kooperation zwischen Medizinern, Psychiatern und jenen Psychotherapeuten erforderlich, die im Rahmen von NGOs seit Jahren mit Asylwerbern aus aller Welt arbeiten", meint Renner. "Es gibt genug Experten mit großer Erfahrung bei allen infrage kommenden ethnischen Gruppen."

Uta Wedam ist eine davon. Seit Jahren bietet sie beim Verein Zebra, dem Interkulturellen Beratungs- und Therapiezentrum in Graz, Psychotherapien für traumatisierte Flüchtlinge an. Dass eine Traumatisierung im Rahmen eines einzigen Gesprächs überhaupt diagnostizierbar ist, bezweifelt sie: "Abgesehen davon, dass die Gutachter oft über keinerlei praktische Erfahrung in diesem Feld verfügen, braucht es auch sehr viel Vertrauen seitens der Betroffenen, um über ein erlittenes Trauma überhaupt sprechen zu können. Wie man von Folter- oder Vergewaltigungsopfern weiß, sind diese Erlebnisse oft stark mit Scham- und Schuldgefühlen besetzt."

Mit ihrer Forderung nach einer kompetenten und fairen Begutachtungspraxis wollen die Autoren der vom Wissenschaftsfonds geförderten Studie über eine kultursensible Traumadiagnostik jedoch keinesfalls akzeptieren, dass die Frage des politischen Asyls zu einem rein psycho-medizinischen Problem gemacht wird: "Nicht alle verfolgten Menschen bilden Traumasymptome aus", betont Klaus Ottomeyer, "dennoch haben sie ein Recht auf politisches Asyl. Und was ist schließlich mit denen, die gerade noch rechtzeitig flüchten konnten? Eigentlich dürfte aus ethischen Gründen zurzeit kein Asylwerber - ob traumatisiert oder nicht - etwa nach Tschetschenien oder Afghanistan zurückgeschickt werden. Leider passiert das aber immer öfter." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 07.06. 2006)