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Premiere von "An Inconvenient Truth" in Cannes

Foto: Getty Images/Pascal Le Segretain


Derzeit (Juni 2006) noch nicht in den österreichischen Kinos.

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Schlag nach im Langenscheidt: "inconvenient adj.: 1. unbequem, lästig, störend, beschwerlich; 2. Zeit, Lage, etc.: ungünstig, 'ungeschickt'." – Geht man jüngsten politischen Analysen (oder sind es doch Spekulationen?) zufolge davon aus, dass Al Gore als Rufer in der Wüste und frisch gebackener "Filmstar" mit An Inconvenient Truth (Eine unbequeme Wahrheit) gewissermaßen erneute Ambitionen auf das Amt des Präsidenten anmeldet, wäre dem quasi aus der Sicht von Historikern gegenzuhalten: Nicht nur in der Antike war es üblich, den Überbringer einer schlechten, "lästigen" Nachricht inständig mit derselben zu identifizieren, dass man denselben stante pede hingerichtet hat.

Heute ist man natürlich zivilisierter. Zumindest tut man so. Heute vermarktet man die Überbringer der schlechten Nachrichten (solange sie noch frisch / haltbar sind). Only bad news are good news, heißt es. Der Markt für unangenehme Wahrheiten boomt. Ohne ihn und ohne größere und kleinere Medienmacher, die in einschlägigen Erfolg versprechenden Content investieren, wäre An Inconvenient Truth auch gar nicht realisierbar gewesen. Michael Moore und Fahrenheit 9/11 – das war ein Hit. Dokumentarfilme über die Grauen der Lebensmittelindustrie (Darwin's Nightmare, We Feed the World) boomen – auch wenn sie unter journalistischen, strikt dokumentarischen Aspekten mitunter durchaus fragwürdig agieren. Können Rezensenten denn wirklich dagegen sein, dass sich jemand Sorgen macht? Alle machen sich Sorgen. Und manche machen rund um diese Sorgen Filme. Filme, die von den Rezensenten unter dem Motto "Letztlich aber doch ein sehr wichtiges Thema!" freundlich besprochen werden – vermutlich auch in der teilweise berechtigten Angst, den Darth Vaders "da oben" (Bush-Administration, Industrielobby, etc.) mit Kritik an formalen Schwächen eines "hochpolitischen!" Films Vorschub zu leisten.

Unter "positive Kritiken" für An Inconvenient Truth werden derzeit etwa Slogans wie "hervorragender Unterrichtsfilm!" zitiert. Unter seriösen Filmkritikern ist das eigentlich ein Totschlag-Argument. Aber es trifft letztlich den durch und durch didaktischen und gleichzeitig filmisch völlig uninteressanten Charakter des vorgeführten Materials durchaus.

Möglicherweise kann man ja Schülern etwa mit einer kurzen Simpsons-Erderwärmungs-Variation tatsächlich kurzfristiges amüsiertes Staunen entlocken. Möglicherweise identifizieren sich tatsächlich mehrere tausend Zuschauer mit denen, die da im Film an Al Gores Lippen hängen, während dessen Powerpoint-Präsentation nicht und nicht enden will. Und dass er nach einem Unfall seines Sohnes ein stärkeres Bewusstsein für die Verletzlichkeit allen Seins entwickelte – auch gut, aber welches Ablaufdatum haben solche Nachrichten in Zeiten allgemein erhöhter Sentimentalität? Füttert man damit und mit ein paar lustigen, "lockeren" Talkshow-Auftritten nicht viel eher die Meinungs-und Infotainment-Kanäle und lenkt so vom eigentlichen Handlungsbedarf ab? Etwas, das sich Michael Moore mit Fahrenheit 9/11 trotz eines Millionenpublikums und einer Goldenen Palme in Cannes, 2004, definitiv nicht auf die Fahne schreiben darf, ist, dass er politisch auch nur irgendetwas bewegt hätte.

Apropos Cannes: Nirgendwo kann man besser Angebot, Nachfrage und Rezeption am einschlägigen Markt komprimierter studieren. Das war bei den kürzlich zu Ende gegangenen 59. Filmfestspielen nicht anders, in denen man sich im Wettbewerb als (vermeintlichem) Herzstück mit politischen, um nicht zu sagen oppositionspolitischen Inhalten in eine Form von Dauerbesorgnis hineinsteigern konnte, während "außer Konkurrenz", quasi draußen (aber da ist auch der rote Teppich für die Stars) The Da Vinci Code gefeiert und die kommenden Sommerhits plakatiert wurden. Diese Kluft zwischen einer Legitimierung durch "Qualität" und einer Inszenierung von Quote ist keineswegs neu. Sie wurde nur besonders augenfällig, weil das Gros des "hochpolitischen!" Angebots schlicht enttäuschte. Beziehungsweise: Ent-täuschte, weil es vermutlich per se eine Täuschung, ein Irrtum wäre anzunehmen, "brisante", "hochpolitische" Filme wären besser oder wichtiger oder vielversprechender als "persönliche" oder "private" oder vermeintlich "unpolitisch" spektakuläre.

Der Zweck heiligt die (äußerst beschränkten) Mittel: Was man den "bösen" Darth Vaders als Argument nicht durchgehen ließe, durfte herhalten, als ausgerechnet der filmisch sonst so eloquent argumentierende Quentin Tarantino Michael Moore die Goldene Palme verlieh. Es durfte gelten, als heuer eine Jury unter dem großen Filmemacher Wong Kar-wai mit Ken Loachs The Wind That Shakes The Barley ausgerechnet den drögsten Antikriegskitsch des Festivals prämierte. Es galt wohl, als man zuletzt Nanni Moretti, der in seinem Berlusconi-Film Il Caimano all seine sonstigen Qualitäten zugunsten einer müden Klamotte vergaß, mit Samthandschuhen anfasste – klar, weil sonst hätte man Berlusconi Munition gegeben, er hätte vielleicht sogar die Wahl gewonnen. Wie bitte? Hat er sie wegen Moretti verloren? Es sieht ganz und gar nicht so aus. Oder: Wenn ein Filmemacher wie Richard Linklater, der über die Fast Food Nation USA einen schwachen Film mit Kurzauftritten von Stars wie Bruce Willis macht – sind er und seine Stars dann immer noch gesellschaftspolitisch auf der richtigen Seite, oder haben sie doch nur einen schwachen Film gemacht?

Die wirklich unangenehme Wahrheit, die sich dieser Tage wieder einmal verstärkt erahnen lässt, ist folgende: Der Markt, der "Hochpolitisches!" und "Opposition!" generiert (und designt), nivelliert und deformiert zu einer Konformität, die im Prinzip dieselben Mechanismen bedient, dieselbe Sprache spricht wie dasjenige oder diejenigen, die man eigentlich "kritisiert". Man möchte sich nun gerne vorstellen, wie es einem Filmemacher oder Autor erginge, der genau diese Zurichtung jenseits von Gut und Böse dokumentieren würde. Es ist aber gut denkbar, dass so eine lästige Botschaft, bevor sie die Konsumenten erreicht, "gekillt" wird. (Claus Philipp/ DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3. – 5. 6. 2006)