Die Diskussion um die diesjährige Verleihung des Heinrich-Heine-Preises im Widerhall der "Wort-Geschosse": Stellungnahme von Peter Handke zu den Vorwürfen seiner Kritiker.

Ich muss ernsthaft sein und ruhig antworten auf die Vorwürfe, die mir seit vielen Jahren und jetzt wieder, nach der Zusprechung (und der angedrohten Nichtvergabe) des Heinrich-Heine-Preises entgegengehalten werden.

Ich muss es für die Leser tun, für die redlichen Leser – übrigens eine Tautologie, denn ein unredlicher oder voreingenommener Leser ist nie ein Leser.

Also: Hören wir einander endlich an, statt uns aus feindlichen Lagern anzubellen und -zuheulen. Und tolerieren wir die bösen Wesen (?) oder Geister (?) nicht mehr, die im Zusammenhang mit dem tragischen Jugoslawien-Problem weiterhin mit Wort-Geschossen wie "Revisionismus", "Apartheid", "Hitler", "blutige Diktatur" etc. ballern. Lassen wir, was die Kriege in Jugoslawien angeht, alle Vergleiche und alle Parallelen sein.

Bleiben wir bei den Tatsachen eines von einem unredlichen oder wenigstens unwissenden Europa angezettelten oder wenigstens koproduzierten Bürgerkriegs, die auf allen Seiten schrecklich sind. Hören wir auf, Slobodan Milosevic mit Hitler zu vergleichen.

Hören wir auf, in ihm und seiner Frau Mira Markovic Macbeth und seine Lady zu sehen oder Parallelen zwischen dem Paar und dem Diktator Ceausescu und seiner Frau Elena zu ziehen. Und verwenden wir nie mehr für die während des Sezessionskriegs in Jugoslawien eingerichteten Lager das Wort "Konzentrationslager".

Wahr ist: Es gab zwischen 1992 und 1995 auf dem Gebiet der jugoslawischen Republiken, vor allem in Bosnien, Gefangenenlager, und es wurde in ihnen gehungert, gefoltert und gemordet. Aber hören wir auf, diese Lager in unseren Köpfen mechanisch mit den Bosno-Serben zu verbinden: Es gab auch kroatische und muslimische Lager, und die dort und dort begangenen Verbrechen werden im Tribunal von Den Haag geahndet.

Und hören wir schließlich auf, die Massaker (unter denen, im Plural, diejenigen von Srebrenica im Juli 1995 tatsächlich bei weitem die abscheulichsten sind) dem serbischen (Para)-Militär zuzuschreiben. Ich wiederhole aber, wütend, wiederhole voller Wut auf die serbischen Verbrecher, Kommandanten, Planer: Es handelt sich bei Srebrenica um das schlimmste "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", das in Europa nach dem Krieg begangen wurde.

Wahr ist: Ich war im Juni 1996 zum ersten Mal (und danach noch um die zehn Mal) in Srebrenica und in den ebenfalls zerstörten serbischen Dörfern ringsum, und habe danach ein kleines Buch geschrieben ("Sommerlicher Nachtrag zu einer Winterlichen Reise"). Wahr ist, dass ich in diesem Nachtrag auch von den blühenden Bäumen erzähle, von den Erdbeeren auf den Hügeln um Srebrenica, aber natürlich (entschuldige, Leser, dass ich mich erkläre, aber die Beschreibung dieser Natur wird mir immer wieder vorgeworfen), um die furchtbare Zerstörung in und um Srebrenica und die Todesstille noch spürbarer zu machen. Und der Kern des Nachtrags: die endlosen Schreie eines serbischen Mannes aus Srebrenica, der, zwischen den Ruinen, am Sommerabend (Schwalben!) zu seinem Haus (?) zurückkehrt (?) und auf dem Weg gegen sein eigenes Volk anbrüllt, sein Volk verflucht und verflucht, und am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen vor lauter Wut und Schmerz.

Hören wir auch – endlich – den Überlebenden der muslimischen Massaker zu, in den vielen serbischen Dörfern um das – muslimische – Srebrenica, jener in den drei Jahren vor dem Fall Srebrenicas wiederholt begangenen und von dem Stadtkommandanten befehligten Massaker, die im Juli 1995 – schreckliche Rache und ewige Schande für die verantwortlichen Bosno-Serben – zu dem großen Gemetzel führten, "dem größten in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg". Fügen wir immerhin hinzu, dass alle Soldaten oder muslimischen Männer aus Srebrenica, die die Drina – die Grenze zwischen den beiden Staaten – überquerten und aus Bosnien in das damals von Milosevic regierte Serbien flohen, dass all diese Soldaten, die in dem "feindlichen" Serbien ankamen, heil blieben – hier, kein Gemetzel, keine Massaker.

Ja, hören wir, nachdem wir "die Mütter von Srebrenica" gehört haben, auch die Mütter, oder auch nur eine Mutter des nahe gelegenen serbischen Dorfes Kravica, wenn sie von dem an der orthodoxen Weihnacht 1992/1993 von den muslimischen Streitkräften Srebrenicas begangenen Massaker erzählt, dem auch Frauen und Kinder zum Opfer fielen (und nur für ein solches Verbrechen trifft das Wort "Genozid" zu). Vielleicht irre ich mich in den juristischen Termini: aber die schreckliche Antwort, die abscheuliche Rache der serbischen Streitkräfte (nicht nur für die Morde in Kravica, sondern auch für die während dreieinhalb Jahren in circa dreißig Dörfern um das muslimische Srebrenica begangenen Verbrechen) ist, da sie sich ausschließlich gegen Soldaten und/oder muslimische Männer richtete, als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu bezeichnen: Nuance, die, Ausnahme unter den sonst so wichtigen "Nuancen"!, fast nicht zählt angesichts von tausenden und abertausenden bosno-serbischen Verbrechen, ja und ja, gegen die Menschlichkeit.

Und davon abgesehen – und das ist es, was die Leser in ihren Herzen endlich verstehen müssen – sind die Zahlen der jungen und weniger jungen Toten in den bosnischen Kriegen auf allen Seiten, bei den Muslimen, den Kroaten, den Serben, fast auf gleicher Höhe – warum nicht auch einmal den Friedhof von Visegrad besuchen, den riesigen Friedhof von Vlasenica? Und vor allem, ich wiederhole es voller Trauer: Ich wollte nie sagen, und habe an keiner Stelle gesagt, das Massaker von Kravica sei "der einzige Genozid" in Bosnien gewesen, sondern ein Verbrechen, auf das dieses Wort zutrifft – es gab andere bosno-serbische, muslimische, kroatische Massaker, die mit diesem Terminus bezeichnet werden können.

Und hören wir auf, die "Sniper" von Sarajewo blindlings mit den "Serben" zu verbinden: Die meisten der in Sarajewo getöteten französischen Blauhelme sind Opfer muslimischer Schützen geworden. Und hören wir auf, die (furchtbare, dumme, unverständliche) Belagerung Sarajewos ausschließlich mit der bosno-serbischen Armee in Verbindung zu bringen: Im Sarajewo der Jahre 1992 bis 1995 blieb die serbische Bevölkerung zu zehntausenden in zentralen Vierteln wie Grbavica gefangen, die ihrerseits – und wie! – von muslimischen Streitkräften belagert wurden. Und hören wir auf, die Vergewaltigungen ausschließlich den Serben zuzuschreiben. Und hören wir auf mit Worten à la Pawlow'scher Hund.

Während der Vorbereitungen des Nato-Kriegs gegen Jugoslawien war ich mehrfach in Rambouillet, und am Ende, angesichts des voraussehbaren Scheiterns der "Verhandlungen", des westlichen Diktats, von einem Belgrader Fernsehsender befragt, habe ich das serbische Volk (in meinem Herzen die Bombardierung, die Besatzung und die Lager, vor allem Jasenovac, das Nazi-Kroatien unter der deutschen Besatzung in Jugoslawien 1941–1944) mit dem jüdischen Volk verglichen. Und da, in meiner, glaub' mir, Leser, Leserin, Not, in dem Durcheinander in meinem Kopf, habe ich tatsächlich einen Satz gesagt, der in etwa lautete "die Serben sind noch größere Opfer als die Juden ...

Von den deutschen Medien später darauf angesprochen, konnte ich nicht glauben, eine derartige Dummheit tatsächlich ausgesprochen zu haben – zumal diese Dummheit überhaupt nicht zu meinem Gefühl im Moment des auf Französisch vor der Kamera abgegebenen Statements passte. Ungläubig hörte ich das Tonband an – und, indeed, ich hatte auf lächerliche Weise die Worte verwechselt. Aber Achtung! Ich habe mich sofort schriftlich korrigiert – und die deutschen Medien haben meine Korrektur veröffentlicht – die FAZ Wort für Wort – ohne jeden Kommentar – die schriftliche Richtigstellung meiner Verwechslung wurde damals akzeptiert. Warum jetzt nicht mehr?

Ja, und ich war in Pozarevac, bei der Beerdigung von Slobodan Milosevic. Warum, habe ich im Focus vom 27. März 2006 erklärt: Es war die Sprache, die mich auf den Weg brachte, die Sprache einer so genannten Welt, die die Wahrheit wusste über diesen "Schlächter" und "zweifellos" schuldigen "Diktator", dem noch sein Tod zur Schuld gereichen sollte, weil er sich "vor dem Schuldspruch, ohne Zweifel lebenslänglich, weggestohlen" habe – warum, fragte ich, bedurfte es da noch eines Gerichtes, um ihn schuldig zu sprechen? Solche Sprache war es, die mich veranlasst zu meiner Mini-Rede in Po zarevac – in erster und letzter Linie solche Sprache, nicht eine Loyalität zu Slobodan Milosevic, sondern die Loyalität zu jener anderen, der nicht journalistischen, der nicht herrschenden Sprache.

Verbreitern wir die Öffnung. Auf dass die Bresche nie wieder von schlimmen oder vergifteten Worten verstopft werde. Hinaus böse Geister. Verlasst endlich die Sprache. Lernen wir die Kunst des Fragens, reisen wir ins sonore Land, im Namen Jugoslawiens, im Namen eines anderen Europas. Es lebe Europa. Es lebe Jugoslawien. Zivela Jugoslavija. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2.6.2006)