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Reto Nickler

Foto: APA/ Regine Hendrich
Ein Gespräch mit dem Schweizer Regisseur über das Wagnis des Einspringens und die Reise ins Ich.


Wien – Da kommt man schon ins Grübeln: "Es gab die Dekoration und sonst nichts", beschreibt Reto Nickler seine Situation, als er die Neuproduktion von "Moses und Aron" vom erkrankten Willy Decker übernahm. "Ich habe mich zuerst über das Konzept informiert. Danach habe ich zwei Tage überlegt, ob ich mit der Grundidee etwas anfangen kann. Ab dann habe ich aber geprobt, als ob es mein eigenes Konzept wäre."

In Deckers Team neu einzusteigen war anfangs schwierig. "Bühnenbildner Wolfgang Gussmann und Willy Decker sind derart eingespielt, dass die Umstellung nicht ganz einfach war. Aber das macht nichts. Es gibt bei jeder Produktion Diskussionsphasen, in denen man sich reibt." Dennoch: Hier musste alles schneller gehen, auch das Diskutieren. "Es gab keine Reflexionsphase", erklärt Nickler. "Die Aufgabe hieß: Höchstleistung. Und das sofort!"

Nickler inszeniert nicht zum ersten Mal an der Wiener Staatsoper. Bereits 1989, während der Direktion Abbado/ Drese, hat er die Uraufführung von Beat Furrers Oper Die Blinden auf die Bühne gebracht. Eine Begegnung mit Operndirektor Ioan Holender fand jüngst in der angespannten Situation des Hearings für die Intendanz des Klagenfurter Stadttheaters statt.

Umso erstaunter war Nick^ler, als Holender kurz danach anrief und ihm die Regie von Moses und Aron anbot. "Ich weiß, dass ich handwerklich gut arbeite. Die Frage war, ob ich die Nerven habe. Aber das 2. Spalte Haus, also Technik, Chor und die Solisten, sie standen hinter mir. Das Stück ist gut durchorganisiert, schließlich haben wir doch die letzte Schärfe hineingebracht."

Moses und Aron bedeutet für Nickler: das Innere nach außen kehren. "Es geht darum, die Strecke vom Gedanken zum Wort zurückzulegen", sagt der Regisseur mit kantigem Schweizer Akzent. "Moses ist der Gedanke, der Glaube. Aron ist das Wort, die Kirche. Ein Gedanke, der nicht ausgesprochen wird, ist nicht existent. Moses ist wie ein Sonnenstrahl, der durch Aron reflektiert wird. Der eine braucht den anderen."

Die Unfassbarkeit des Gedankens macht Nickler greifbar. "Wenn Moses spricht, weicht der Chor zurück, er 3. Spalte hört wohl, aber er versteht nicht." Das Konzept der Inszenierung ist weder historisch noch politisch, sondern religionsphilosophisch. Die Ereignisse finden im eigenen Ich statt. "Unterschiedliche reli 4. Spalte giöse Sichtweisen sind mir sehr nahe", erzählt Nickler. "Meine Mutter war jüdisch, ich wurde christlich erzogen und bin seit Langem praktizierender Buddhist."

Handwerkliches Können ermögliche kreatives Arbeiten, sagt Nickler. Eine Maxime, die er seit 1999 auch seinen Regiestudenten an der Wiener Musikuniversität beibringt. Der Staatsopernchor hatte in den Proben denn auch viel "Handwerkliches" zu lernen, zusätzlich zum Gesanglichen. "Das Ich ist auf dem Chor aufgebaut. Jeder Einzelne musste ein Gespür dafür entwickeln, wie er seine Persönlichkeit zeigen konnte. Jeder hält ein Foto von sich in der Hand. Wie geht man damit um? Wie steht man zu sich selbst?"

Zwei Ansprüche

Die "Reise ins Ich" deutet der Schweizer Künstler aber nicht nur religionsphilosophisch, sondern auch musikästhetisch. "Die verschiedenen Ebenen entsprechen der komplexen Denkweise Schönbergs. Moses ist die Zwölftonmusik, Aron ist Schönbergs erste, spätromantische Schaffensphase. Das Nicht-verbinden-Können der beiden ästhetischen Ansprüche, zusammen mit den äußeren Bedingungen des Antisemitismus der 1920er- und 1930er-Jahre, finden in Moses und Aron ihren Ausdruck." Gibt es einen erlösenden Ausweg? "Den Kompromiss muss jeder selbst finden, daher ist alles auf das Ich bezogen." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2.6.2006)