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Selbst das Michelin-Männchen trägt Trauer. Blumen vor der Konzernzentrale in Clermont-Ferrand erinnern an den tragischen Unfalltod des Patriachen Edouard Michelin.

Foto: AP/Gardin
Erst die Beerdigung machte sichtbar, wie stark der Tod von Edouard Michelin das Unternehmen, die Standortstadt Clermont-Ferrand und ganz Frankreich getroffen hat. Tausende von Arbeitern und andere Trauergäste versammelten sich am Mittwoch in und um die Kathedrale von Clermont zum letzten Geleit, das auf Großbildschirmen übertragen wurde. Zahlreiche Politiker und Firmenchefs – etwa von den Großkunden Renault und Peugeot – kondolierten den Familienangehörigen. Michelin war letzte Woche beim Fischen vor der stürmischen Küste der Bretagne ums Leben gekommen.

Patron verloren

Der größte Reifenproduzent der Welt verliert damit völlig unerwartet seinen Patron. Auf dem Papier leitete der 42-jährige Unternehmer den Weltkonzern zwar zusammen mit dem 62-jährigen Michel Rollier, einem alten Bekannten der Michelin-Dynastie. Doch wie es die mehr als hundertjährige Familientradition will, hatte "Edouard" – wie ihn die Bürger der Industriestadt Clermont nannten – das Sagen. Rollier wird nun die Leitung fürs erste allein übernehmen.

Dass Edouards Vater François Michelin, der bald 80-jährige Patriarch des Unternehmens, an die Schalthebel der Macht zurückkehrt, ist hingegen auszuschließen. Obwohl der Clan der Michelins heute an die tausend Mitglieder stark sind, ist kein Stammhalter in Sicht. Edouards Kinder stecken noch im Kindergarten, und von seinen Geschwistern arbeitet nur ein 26- jähriger Bruder im Unternehmen – aber erst in einer unteren Charge. Die Familientradition will, dass selbst ein zukünftiger Firmenpatron alle Hierarchieebenen durchlaufen haben muss.

Interne Nachfolge

Edouards anderer Bruder leitete als Priester die Trauerfeierlichkeiten. Dass eine von den drei Schwestern in die Direktion oder auch nur das Unternehmen einsteigen könnte, war bei den katholisch-konservativen Michelins bisher nie ein Thema. Wichtig ist die interne Nachfolge deshalb, weil die Gründerfamilie nach wie vor die absolute Herrschaft über das Unternehmen ausübt: Dank der Organisation als Kommandit-Aktiengesellschaft wahrt sie bei jeder Kapitalöffnung die Stimmenmehrheit.

Die Arbeit der 130.000 Angestellten – davon mehr als zehn Prozent in Clermont – gewährleistet Michelin bisher die Weltmarktführung. Umsatz und Gewinn stiegen zuletzt regelmäßig.

Nicht mehr unangefochten

Doch Michelins Stellung ist nicht mehr unangefochten. Der kleinere, aber noch rentablere Rivale Continental sowie die japanische Bridgestone bedrängen die Franzosen auf allen Kontinenten. Sie alle bewegen sich in einem zunehmend raueren Umfeld: Während die Autohersteller günstigere Reifen verlangen, kämpfen sie gegen die steigenden Energie- und Rohstoffpreise. Noch im Mai hatte Edouard Michelin gewarnt, die Ergebnisse des ersten Halbjahres würden nicht mehr so gut wie bisher ausfallen.

Ohne Formel Eins

Der Jungpatron hatte auch Kritik einstecken müssen, weil er der Formel Eins den Rücken kehrt. Das könnte langfristig zu einem Imageverlust führen, was auch deshalb ins Gewicht fallen würde, weil sich Michelin auf den lukrativen Bereich der Hochleistungs- und Geländewagen- Reifen konzentrieren will. Gleichzeitig unternahm Edouard Michelin seit längerem Anstrengungen, in den aufstrebenden Märkten Fuß zu fassen. Bis 2010 plante er neue Werkstätten in China, Brasilien, Indien und Thailand.

Angst vor Verlagerungen

Die Angestellten in Europa und Nordamerika befürchten auch aus diesem Grund Verlagerungen von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer. Schon 1999, als Edouard Michelin die Firmenleitung übernahm, hatte er gleich mehrere tausend Stellen abbauen wollen. Nach Protesten musste er aber seine Pläne zurücknehmen. Seither haben sich die Gemüter in den Fabriken wieder beruhigt. Jetzt dürften allerdings neue Turbulenzen bevorstehen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2.6.2006)