Patron verloren
Der größte Reifenproduzent der Welt verliert damit völlig unerwartet seinen Patron. Auf dem Papier leitete der 42-jährige Unternehmer den Weltkonzern zwar zusammen mit dem 62-jährigen Michel Rollier, einem alten Bekannten der Michelin-Dynastie. Doch wie es die mehr als hundertjährige Familientradition will, hatte "Edouard" – wie ihn die Bürger der Industriestadt Clermont nannten – das Sagen. Rollier wird nun die Leitung fürs erste allein übernehmen.
Dass Edouards Vater François Michelin, der bald 80-jährige Patriarch des Unternehmens, an die Schalthebel der Macht zurückkehrt, ist hingegen auszuschließen. Obwohl der Clan der Michelins heute an die tausend Mitglieder stark sind, ist kein Stammhalter in Sicht. Edouards Kinder stecken noch im Kindergarten, und von seinen Geschwistern arbeitet nur ein 26- jähriger Bruder im Unternehmen – aber erst in einer unteren Charge. Die Familientradition will, dass selbst ein zukünftiger Firmenpatron alle Hierarchieebenen durchlaufen haben muss.
Interne Nachfolge
Edouards anderer Bruder leitete als Priester die Trauerfeierlichkeiten. Dass eine von den drei Schwestern in die Direktion oder auch nur das Unternehmen einsteigen könnte, war bei den katholisch-konservativen Michelins bisher nie ein Thema. Wichtig ist die interne Nachfolge deshalb, weil die Gründerfamilie nach wie vor die absolute Herrschaft über das Unternehmen ausübt: Dank der Organisation als Kommandit-Aktiengesellschaft wahrt sie bei jeder Kapitalöffnung die Stimmenmehrheit.
Die Arbeit der 130.000 Angestellten – davon mehr als zehn Prozent in Clermont – gewährleistet Michelin bisher die Weltmarktführung. Umsatz und Gewinn stiegen zuletzt regelmäßig.
Nicht mehr unangefochten
Doch Michelins Stellung ist nicht mehr unangefochten. Der kleinere, aber noch rentablere Rivale Continental sowie die japanische Bridgestone bedrängen die Franzosen auf allen Kontinenten. Sie alle bewegen sich in einem zunehmend raueren Umfeld: Während die Autohersteller günstigere Reifen verlangen, kämpfen sie gegen die steigenden Energie- und Rohstoffpreise. Noch im Mai hatte Edouard Michelin gewarnt, die Ergebnisse des ersten Halbjahres würden nicht mehr so gut wie bisher ausfallen.
Ohne Formel Eins
Der Jungpatron hatte auch Kritik einstecken müssen, weil er der Formel Eins den Rücken kehrt. Das könnte langfristig zu einem Imageverlust führen, was auch deshalb ins Gewicht fallen würde, weil sich Michelin auf den lukrativen Bereich der Hochleistungs- und Geländewagen- Reifen konzentrieren will. Gleichzeitig unternahm Edouard Michelin seit längerem Anstrengungen, in den aufstrebenden Märkten Fuß zu fassen. Bis 2010 plante er neue Werkstätten in China, Brasilien, Indien und Thailand.
Angst vor Verlagerungen