Wien - Verschwindet das Inzestverbot, nehmen Sexualverbrechen zu, meint Jean Laplanche, französischer Psychoanalytiker. Schließlich habe das Inzestverbot vor allem den Sinn, die Psyche des kindlichen Individuums vor den Kräften der infantilen Sexualität Erwachsener zu schützen.

Wie Laplanche kürzlich in einem Vortrag in Wien feststellte, werde das Inzestverbot systematisch aufgeweicht: Wo Scheidung, Patchworkfamilien oder Adoption zum Alltag gehören, begännen die Verwandtschaftsverhältnisse unscharf und uneindeutig zu werden. Das tangiere auch die Idee des Inzests, weil diese damit - man denke an Woody Allens Beziehung zu seiner Adoptivtochter - ebenfalls verwässert und undefinierbar werde. Dieses "Aufweichen" sei problematisch, wie ein Blick auf die Entstehung infantiler Sexualität zeige.

Für Laplanche existieren keine angeborenen Sexualtriebe; vielmehr würden diese dem Menschen quasi "eingepflanzt". Und zwar durch das, was er die "grundlegende anthropologische Situation" bezeichnet. Damit ist gemeint, dass Kinder von Erwachsenen, Älteren erzogen werden.

Was wiederum bedeute, dass der Säugling auf jemanden trifft, der "eigentlich zwei Sexualitäten" habe: die genital- und befriedigungsorientierte eines Erwachsenen und jene, die aus seiner Kindheit stammt; bei der es sich also um die zu einem guten Teil verdrängte eigene infantile, primär auf Erregung abzielende Sexualität handelt.

Rätselhafte Botschaften

Diese infantile Sexualität des Erwachsenen finde laut Laplanche oft Eingang in die Kinderpflege. Wodurch zwischen Erwachsenen und Kind nicht nur eine Bindung entstehe: Zu ihrem Verhältnis gehöre auch eine Dissymmetrie; und zwar dahingehend, dass sich die verdrängte infantile Sexualität des Erwachsenen in seine Kommunikation mit dem Neugeborenen einmischt und so dafür sorgt, dass das Kind "rätselhafte Botschaften" erhalte. Etwa, wenn die Eltern dem Kind irgendwie vermitteln, dass sie es am liebsten aufessen würden und es dabei vielleicht auch noch leidenschaftlich umarmen.

Genau diese "Botschaften" brächten aber, so Laplanches Hypothese, die sexuelle Entwicklung des Kindes in Gang und könnten auf ganz unterschiedliche Weisen verarbeitet werden, sobald sie das Kind erreichen. Die eine Variante bestehe darin, dass sie vom Kind überhaupt nicht behandelt und in Sprache und bewusstes Denken übersetzt werden, folglich völlig im Unbewussten bleiben und so quasi "eingeklemmt" sind. In der anderen Variante komme es im Laufe des Heranwachsens sehr wohl zu einer Auseinandersetzung und symbolischen Verarbeitung, auch wenn vieles unbewusst und verdrängt bleiben wird.

Besonders erstere Variante sei problematisch. Ist nämlich die infantile Sexualität "eingeklemmt", könne sie, wenn der kleine Mensch erwachsen geworden ist, zu Gewaltexzessen gegenüber kleinen Kindern führen. Zu diesen Exzessen komme es stets dann, wenn die infantile Sexualität als unsymbolisierte, unsublimierte, nur nach Erregung suchende Kraft hervorbricht - gleich einem "sexuellen Todestrieb", der in seiner Gier nach Grenzüberschreitungen und "Kicks" alles vernichtet.

Das ist schließlich auch der Punkt, an dem für Laplanche das Inzestverbot relevant wird: Dieses ist seiner Ansicht nach nämlich in erster Linie eine Art "Sperrriegel" gegen die infantile Sexualität überhaupt. Wo dieser fehlt, könne letztere gegebenenfalls exzessiv hervorbrechen - und Leben zerstören. Was heute immer öfter der Fall sei. Also plädiert Laplanche für Triebverzicht: Dieser sei das "kulturelle Schicksal" des Menschen - ohne ihn gehe es nicht. (D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 26.5. 2006)