Foto: STANDARD/Christian Fischer
STANDARD: Wie kommt es, dass ein Teilchenphysiker und Ökonom wie Sie an einer Medizin-Universität arbeitet? Thurner: Das geht vor allem auf die Initiative des HNO-Klinkchefs Klaus Ehrenberger zurück, mit dem ich schon vor meiner Diplomarbeit den Prototyp eines Hörgeräts entwickelte. Mit ihm habe ich danach immer wieder zusammengearbeitet. Er war es auch, der für mich eine Stelle an seiner Klinik geschaffen hat und mich dazu bewog, in Europa eine Karriere zu versuchen und nicht in den USA.

STANDARD: Wie kann jemand mit Ihrer Ausbildung überhaupt etwas zur medizinischen Forschung beitragen?

Thurner: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Während meiner Zeit als Postdoc in den USA hat mir mein damaliger Chef die Daten der EKGs von 25 herzkranken und 25 gesunden Personen gegeben, und ich sollte herausfinden, welche die herzkranken waren. Tatsächlich konnte ich die Herzkranken identifizieren, unter anderem mit Hilfe von Methoden aus der Quantenphysik, weil ihr Herzschlag ganz bestimmte Muster aufweist. Inzwischen ist das in ein paar Ländern sogar zu einer gebräuchlichen Untersuchungsmethode geworden.

STANDARD: Und heute arbeiten Sie an Medizinthemen?

Thurner: Nein. Aber es gibt immer wieder Projekte, die sich auch damit befassen. Zum Beispiel haben wir ein Patent angemeldet, wie man Schwindelzustände durch spezifische Simulationen der Augen therapieren kann. Auch dafür brauchte es komplexe mathematische Berechnungsmethoden.

STANDARD: Woran forschen Sie sonst noch?

Thurner: Ein Projekt beschäftigt sich mit der Rekonstruktion von Gennetzwerken, die einer Krankheit zugrunde liegen. Wenn man die nämlich kennen würde, könnte man optimale Medikamente designen, mit denen das Symptom bekämpft wird, sodass dann nur minimale Nebenwirkungen auftreten. In einem anderen Projekt geht es um die Frage, was passiert, wenn Banken bankrott gehen - und niemand einspringen würde.

STANDARD: Das interessiert hier zu Lande einige Leute.

Thurner: Das ist auch eine spannende Frage. Wenn nämlich eine Bank andere Banken mitreißt, dann kann das zur Ausbreitung einer Finanzkrise kommen wie in Südamerika, Russland oder Südostasien. Das ist volkswirtschaftlich sehr teuer. In Asien sind innerhalb von drei Monaten rund 60 Millionen Leute aufgrund einer Finanzkrise arbeitslos geworden. Wir gehen der Frage nach, wie man Finanz-Netzwerke konstruieren kann, die es verkraften, wenn einzelne Banken zahlungsunfähig werden. Es geht um Stabilität und Effizienz durch clevere Vernetzung.

STANDARD: Das Forscherteam, mit dem Sie an diesen Fragen arbeiten, nennt sich COSY. Was verbirgt sich dahinter?

Thurner: Das steht für Complex Systems Research Group, also für Forschung an komplexen Systemen. Konkret sind das zehn junge Wissenschaftler aus den verschiedensten Disziplinen: der Mathematik, der theoretischen Physik, der Biologie, der Chemie oder der Computerwissenschaft. Viele von ihnen haben auch eine Ausbildung in mehr als einem Bereich und können deshalb gut transdisziplinär arbeiten.

STANDARD: So wie Sie selbst. Warum ist das so wichtig?

Thurner: Das sind nun einmal die besten Voraussetzungen für Innovationen in der Forschung. Man kann Zusammenhänge und Strukturen erfassen, die man aus ganz anderen komplexen Systemen kennt - so wie beim Beispiel mit dem Herzschlag und der Quantenphysik. Leider sieht man das nicht überall so.

STANDARD: Warum?

Thurner: Ich war kürzlich bei einem Workshop, bei dem es um neue Ideen ging. Da hat mir ein Teilnehmer gesagt, dass ich als Physiker bei meiner Physik bleiben und meine Kompetenzen nicht in Richtung Sozialwissenschaften überschreiten soll. Das ist eine typische Reaktion. Ich denke: Neues kann man nur entdecken, wenn man seine disziplinären Kompetenzen überschreitet. Für eine klassische Karriere ist das von Nachteil.

STANDARD: Wie kommen Sie darauf?

Thurner: Als Physiker, der sich nicht mit Gravitation, Elementarteilchen oder Material Science beschäftigt, habe ich mit meinen Arbeiten kaum eine Chance, eine richtige Professur an einem Physikinstitut zu bekommen. Für die Bio-oder die Wirtschaftswissenschaften bin zu weit vom Mainstream. Ich glaube, dass diese Art von Wissenschaft, die wir machen, etwas Neues, Eigenständiges ist und nicht eine Melange aus Disziplinen. Mancherorts wird das auch so gesehen. An einigen Universitäten gibt es bereits Professuren für Complex Systems. Hier hingegen sitze ich zwischen allen Stühlen.

STANDARD: Wo würden Sie lieber sitzen?

Thurner: Am Santa Fe Institute. Da bin ich seit 1999 jedes Jahr einige Wochen Gastforscher. In dieser Zeit habe ich meist mehr Ideen als die ganze übrige Zeit in Wien. Ich habe viele Unis von innen gesehen, aber Santa Fe ist mit Abstand das kreativste Umfeld.

STANDARD: Woran liegt das?

Thurner: Zum einen forschen dort die Top-Leute. Mit denen sitzt man dann beim Essen zusammen, diskutiert Ideen und macht dann womöglich gemeinsam ein Projekt. Zum anderen ist die Infrastruktur fantastisch: Jeder hat ein vier Quadratmeter-Büro. Ansonsten trifft man sich in Gemeinschaftsräumen zum Ideenaustausch oder auf den Liegestühlen im Freien. Entsprechend hoch ist der Output.

STANDARD: Und wie hoch ist der bei Ihnen?

Thurner: Seit meinem Doktorat veröffentliche ich rund zehn wissenschaftliche Artikel pro Jahr. Ein Phänomen ist, dass es nicht mehr Artikel pro Jahr werden, obwohl ich heute viel mehr Mitarbeiter habe. Ich denke, dass das mit dem Parkinson'schen Gesetz erklärbar ist, über das ich gern ein Projekt machen würde.

STANDARD: Was besagt dieses Gesetz?

Thurner: Parkinson war ein Historiker, der über den Niedergang der britischen Marine und ihre Bürokratie geforscht hat und dabei herausfand, wie die Größe der Verwaltung negativ mit der Effizienz des Verwalteten korreliert. In meinem Fall ist es so, dass mein Arbeitstag mittlerweile zu mehr als der Hälfte aus Administration besteht.

STANDARD: Ist das nicht frustrierend? Thurner: Ja, das ist es. Verwaltungsarbeit tötet kreative Ideen. Eine Forschungseinrichtung sollte sich das nicht leisten können. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24./25. 5. 2006)