Der Kurssturz am Montag hat Anlegern an der Wiener Börse einen Schock versetzt, der durch die Erholung am Dienstag nur wenig gemildert worden ist. Denn während der ständigen Rekordjagd der vergangenen drei Jahren haben viele heimische Börsianer vergessen, dass die Gesetze der Schwerkraft immer nur für kurze Zeit außer Kraft gesetzt werden können.

Der "schwarze Montag" hat ihnen eine weitere Erkenntnis gebracht: Österreich mag zwar eines der reichsten Länder der Welt sein, aber die Wiener Börse zählt zu den "Emerging Markets" - Schwellenländer, die hohe Gewinne mit hohem Risiko versprechen.

Der Kursverfall in Wien hatte wenig mit der Anlegerskepsis gegenüber der OMV-Verbund-Fusion und anderen lokalen Ereignissen zu tun, sondern war Teil einer weltweiten Flucht aus Risikowerten - darunter auch Aktien aus Ostasien, Indien, Türkei, Russland und Osteuropa, die davor kräftig zugelegt hatten. Zwar fielen die Kurse auch in Westeuropa und den USA, aber weniger stark als im indischen Mumbai, Moskau oder Wien.

Die Manager der großen Fonds studierten gar nicht die Details der einzelnen Märkte, sondern machten folgende Kalkulation: Wenn die Inflation in den USA stärker als erwartet steigt, dann ziehen die langfristigen US-Zinsen an, die trotz der vielen Zinsschritte der US-Notenbank auf einem niedrigen Niveau verharrt haben. Dadurch wird die Veranlagung in Aktien allgemein weniger attraktiv - und in Märkten mit hoher Volatilität riskanter. Daher sei es jetzt an der Zeit, Gewinne in den Emerging Markets mitzunehmen und zu verkaufen - und das gilt auch für Aktien aus Mittel- und Osteuropa (CEE). Dazu zählen vor allem die Blue Chips der Wiener Börse.

Denn Österreichs Paradekonzerne haben im vergangenen Jahrzehnt massiv im Osten expandiert, ihre Aktien wurden ihrer Ostfantasie wegen gekauft. Der Anstieg des ATX hatte wenig mit der Politik der Regierung Schüssel oder der Entwicklung von Österreichs Wirtschaft zu tun, sondern wurde vom Wachstum der osteuropäischen Reformstaaten getrieben, die mit einer liberalen Wirtschaftspolitik die Kluft zum Westen zu schließen versuchen.

Haben OMV, Erste Bank und Raiffeisen ihr Hauptengagement anfangs auf die relativ stabilen Nachbarländer beschränkt, so drängen sie heute nach Rumänien, Serbien und in die Ukraine. An guten Tagen sind dies Hoffnungsmärkte, an schlechten aber werden sie zu potenziellen Minenfeldern.

Unternehmen, die nichts wagen, sind zum Misserfolg verdammt. Deshalb gibt es an der Ostexpansion der heimischen Konzerne nichts auszusetzen. Auch für Österreichs Wirtschaft ist das Gefahrenpotenzial der Unternehmen im Osten gut verkraftbar. Wer aber an der Wiener Börse investiert, sollte sich bewusst sein, dass die Risiken hier höher sind als etwa an den Börsen in Frankfurt oder Zürich.

Die Privatanleger, die in letzter Zeit immer stärker an die Börse gedrängt sind, haben davon wenig erfahren. Sie wurden von ihren Bankberatern, von aggressiven Werbekampagnen der Unternehmen und letztlich auch vom Finanzminister gelockt, der jedes Mal Champagner fließen ließ, wenn der ATX eine neue Schwelle durchstieß.

Schlimmer noch: Durch die vom Staat geförderte Zukunftsvorsorge werden die Österreicher dazu verleitet, einen guten Teil ihrer Altersvorsorge in Wiener Aktien zu investieren. Das ist praktisch für heimische Unternehmen, aber eine miserable Strategie für Menschen, die beim Geldanlegen vor allem Sicherheit suchen. Wenn die Profis jetzt aussteigen, dann sind sie die Deppen, die übrig bleiben.

So weit ist es noch nicht. Niemand weiß, wohin sich der ATX als nächstes bewegen wird. Aber eine echte Kurskorrektur könnte Monate, ja sogar Jahre dauern. Jetzt von einer tollen Chance für den Markteinstieg zu reden, wie es manche Analysten tun, ist unverantwortlich. Österreichische Aktien bleiben attraktiv, aber riskant - und sollten nur als Teil eines breiteren Portefeuilles gehalten werden. (Eric Frey, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24.5.2006)