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Unverblümt, aber genial: Peter Zadek, etwa 1980.

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Lucca - Zuallererst erstaunt, dass einer der größten, wirklich unverzichtbaren lebenden deutschen Theaterregisseure sich selbst nicht ernst genug nimmt, um sich eine Autobiografie zu vergönnen, die seinem Rang entspricht: Ein inszenierender Riese begehrt durchaus, ein Plauderzwerg zu sein. Peter Zadek, der heute 80 Jahre alt wird, hat rechtzeitig zum Wiegenfest den zweiten Teil seiner chronologisch fortlaufenden Allerweltsplaudereien veröffentlicht: Die heißen Jahre , verlegt bei Kiepenheuer & Witsch zu Köln, ergießt über eine kurios widerspruchsbehaftete Theaterdekade einen Sturzbach kolloquialer Floskeln.

Zadek, in Bremen der wilde Pop-Artist, wechselt Anfang der 70er an das Bochumer Schauspielhaus. Er gedenkt seiner Weggefährten wie ein Herrenreiter, der seine allzu menschlichen Regungen hinter einem Paravent der Schnoddrigkeit verbirgt.

Frauen habe er viele gehabt: durch das Theater, hinter dem Theater. Ein Geschlinge von Abhängigkeiten entsteht. Ein virtuoses Spiel mit Loyalitäten mündet in mehrmonatige Proberaumschlachten, die Unfassbarkeiten wie den Hamburger Othello (1976) hervorbringen: Ein lallendes Riesenbaby (Ulrich Wildgruber) beschmiert unter dem Druck seiner mörderischen Umarmung die korpulente Desdemona (Eva Mattes) mit Schuhpaste.

Ein Wetterleuchten flackert über den Stadttheatertürmen. Originelle Kraftbegabungen wie Rainer Werner Fassbinder (Zadek: "Wir haben uns nie etwas zu sagen gehabt!") versammeln Gruppen um sich, die sich der ehrwürdigen Theater wie kostbarer Spielzeuge bemächtigen.

In den 1970er-Jahren laufen die letzten Reste der "alten Bundesrepublik", verkörpert durch Großmimen wie O. E. Hasse, ein in komplett umgekrempelte Stadttheaterhäfen. Man spielt - für sich. Keine Wirklichkeit dringt durch in die sorgsam abgeschotteten Basislager szenischen Erfindungsgeistes. Zadek, Guru und "Ermöglicher" mit vampirischer Lust am schauspielerischen Exzess, verteilt großzügig Eigenschaftskärtchen. Der eine Alte (Hans Mahnke) war ständig krank: "weil er ein alter Schlamper war". Wieder ein anderer (Walter Schmidinger) war gefährdet und obendrein "homosexuell". Ein Umstand, der auch bei Boy Gobert oder seinem Weggefährten Ivan Nagel verlässlich Erwähnung findet.

Wenn man Zadeks angelsächsisches Understatement nicht als Sichtblende schätzen gelernt hätte: Man müsste glatt glauben, der damals Valium-kranke Zadek ("Ich war ein Pillenladen") strotze vor uneingestandenen Ressentiments.
Bloß: Mit Fortdauer der Lektüre erscheint immer unklarer, was die "Sache" ist. Zadek tritt als der Nacherfinder seiner eigenen Künstlerbiografie beherzt zurück hinter die längst verflogenen Produkte einer überbordenden Einbildungskraft. Er skizziert höchst unvollständig die Kraftlinien eines szenischen Geschehens, das immer mehr bedeutet als die Summe seiner einzelnen Teile. Das die Entäußerungsmöglichkeiten völlig unvereinbarer Künstlerpersönlichkeiten zu fragilen Bündeln häuft: "eine Sammlung von Irren um mich herum", wie Zadek die Sachlage so unnachahmlich trocken beschreibt.


Landvermessung

So wird in den 70ern Shakespeare durchgekäut, wird der Kontinent Ibsen beiläufig durchmessen - gedenkt der zurückgekehrte Emigrant einiger bizarrer Gestalten wie der Kritikerlegende Kenneth Tynan.

Zadek hat heute eine Produktionsfirma in Brandenburg gegründet, die in den kommenden Jahren mit Was ihr wollt ein Tourneetheater auf die Beine stellt. Ein Sommernachtstraum soll folgen. Er wird, aufgetretener gesundheitlicher Unpässlichkeiten ungeachtet, weiter seiner Lebensgefährtin Elisabeth Plessen in Lucca ins Mikrofon diktieren. Der nächste Erinnerungsband könnte schrecklich werden. Aber Zadek hat noch niemandem etwas geschenkt. Schon dafür gebührt ihm jede Gratulation. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.5.2006)