Elke Schmitter
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Ein Roman kann vielleicht wie das Leben sein, aber das Leben ist kein Roman." Dieser Satz steht in einem Brief, den die Autorin, Literaturkritikerin und Spiegel-Redakteurin Elke Schmitter in ihrem neuen Buch Veras Tochter an eine sensible Leserin schreibt, die sich in einer Romanfigur von Schmitters erstem Roman Frau Sartoris wiederzuerkennen glaubt. In Veras Tochter geht es um ein literarisches Spiel mit Fakten und Fiktion, um Persönlichkeitsrechte und die Frage nach dem Glück, das immer die andern haben. Doch dazu später.

Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selbst welche - dieses Bonmot des Lyrikers und Zeichners F. W. Bernstein, der damit das Programm der Neuen Frankfurter Schule um das deutsche Satiremagazin Titanic auf den komischen Knackpunkt brachte, lässt sich nicht zuletzt auf das kritische Literaturgewerbe anwenden. Handelt es sich nicht bei vielen Literaturvermittlern, die dafür sorgen, dass manche Bücher mehr, andere aber weniger wahrgenommen werden, um verpatzte Schriftsteller, die ihre primären literarischen Ambitionen nun im sekundären Rezensionswesen abreagieren?

Gemäß einem auch in der literaturkritischen Branche selbst verbreiteten Vorurteil ist das so. Veröffentlicht so ein Kritiker schließlich doch einen Roman oder gar Gedichte, kann er einerseits auf ein Netzwerk literaturbetrieblicher Beziehungen zurückgreifen, von dem normalsterbliche Autoren nur träumen können. Anderseits aber ist ihm das tiefe Misstrauen der Kollegenschaft sicher. Kann es also gut gehen, wenn Kritiker Romane schreiben?

Vielleicht dann, wenn wie bei Elke Schmitter - langjährige Chefredakteurin der taz, dann Literaturkritikerin der Zeit, schließlich Redakteurin des Spiegel - beides, das Rezensieren und das Produzieren von Literatur, mit einer gewissen Nonchalance betrieben werden, einer Unverkrampftheit, die speziell in ihrer Lust zum Lesen wurzelt. Niemals lese sie alle Bücher eines Autors, meint Schmitter, aber manche Bücher lese sie 20- bis 30-mal. In ihrer kommoden Berliner Arbeitswohnung, mit Balkonblick auf die gegenüberliegenden Häuser von Wilmersdorf, die sie mit ihrem Mann, dem Autor Jürgen Busche, teilt, kann man die idealtypische Bibliothek besichtigen.

Thomas Manns Buddenbrooks könne sie fast auswendig, meint Schmitter. Der bürgerliche Großschriftsteller, der täglich seine zwei Seiten produzierte, sei sonst gar nicht ihr Fall. Aber sein Familienschmöker war das einzige Buch, das sie dabei hatte, als sie nach Abschluss ihres Philosophiestudiums - ratlos wie es weitergehen solle - Richtung Alaska auswanderte. Nach einem Dreivierteljahr kehrte sie, "kleinmütig geworden", zurück und wandte sich wieder jener Literatur zu, für die sie eine stärkere Affinität empfand.

Zwar war es nicht zuletzt der Hunger nach der deutschen Sprache, der sie das Alaska-Experiment abbrechen ließ, aber neben ihren Favoriten wie Kafka, dem frühen Arno Schmidt, Böll, Kästner oder auch Torberg, dessen Tante Jolesch ihr lieb und teuer ist, sind es vor allem die fragilen "englischen Fräulein", Jane Austen und die Brontë-Schwestern sowie die exzentrische Amerikanerin Djuna Barnes, die sie faszinieren. Nicht zu vergessen die von großen alten Männern der Literatur geschaffenen Figuren, denen wir das Frauenbild des 19. Jahrhunderts verdanken und ohne die Schmitters eigene Romane kaum geschrieben worden wären - neben der an Gram und Schwindsucht dahinsiechenden Effi Briest, die unwiderstehlichen Selbstmörderinnen Madame Bovary und Anna Karenina.

Schon rätselhaft, mit welch unhinterfragter Selbstgewissheit diese Autoren sich in die weibliche Psyche versetzt hätten, meint Schmitter. Sie selbst halte es eher mit Jane Austen, die gemeint habe, keine Frau könne wissen, was Männer reden, wenn sie unter sich wären. Das müsse auch umgekehrt gelten. Trotzdem - Effi, Emma und Anna seien extrem überzeugende Figuren, und Tolstoi oder Flaubert hätten anbetungswürdige Werke geschaffen, ganz anders als etwa George Sand, die zwar als Person fasziniere, deren Bücher ihr aber ehrlich gestanden gestohlen bleiben könnten.

Hier spricht eine Frau, die alle Finessen des Feminismus kennt, aber in selbstreflexiver Anmut und undogmatischer Klugheit ideologisch nicht korrumpierbar ist. So schafft sie es, in Heinrich Heine, dem sie zu seinem 200. Geburtstag, 1997, den Band Und grüß mich nicht unter den Linden gewidmet hat, im Gegensatz zu anderen weiblichen und männlichen Interpreten, einen Dichter zu sehen, dessen Frauenbild schon eher unbürgerliche, ja antibürgerliche Züge trägt. Da gebe es keine philisterhafte Trennung in Hure und Heilige, keine Denunzierung von Frauen, die sich selbstständig machen. Nicht zuletzt habe Heine, in dieser Hinsicht vergleichbar mit Goethe, seinen Bettschatz zur Gattin gemacht, ungeachtet der Verstörung seiner Umgebung, die nicht verstehen wollte, wie er sich für die kleine Schuhverkäuferin Mathilde entscheiden konnte, die angeblich nicht einmal des Lesens und Schreibens mächtig war.

Frauen, die Dichter wie Heine, Goethe oder auch E. T. A. Hoffmann lieben, wissen deren romantische oder künstlerische Qualitäten in ihrem Alltagspragmatismus oder ihrem gesellschaftlichen Ehrgeiz vielleicht gar nicht entsprechend zu schätzen. Andere reale oder fiktive Frauen nehmen gleich einen Landarzt oder einen honorigen Minister zum Mann, der zwar die kleinbürgerlichen Anforderungen oder die gesellschaftliche Etikette, aber keine Sehnsüchte erfüllt. Es war um die Jahrtausendwende, als Elke Schmitter eine Auszeit in ihrer journalistischen Karriere nutzte, um einen Roman zu schreiben, der ihr schon lange im Kopf herumging. Ein Eheroman sollte es sein, eine Madame Bovary von heute, angesiedelt in der deutschen Provinz und zu einer Zeit, "als man als Frau in Gelsenkirchen oder Dienstlaken noch stigmatisiert war, wenn man sich scheiden ließ."

Frau Sartoris aus dem gleichnamigen Roman ist um die 40, hat ein Mal unglücklich geliebt und aus Trotz einen soliden Kriegsinvaliden geheiratet, dem man nichts vorwerfen kann, außer, dass er ist, wie er ist: ein langweiliger Vereinsmeier, der peinliche Witze erzählt und die gemeinsame Tochter abgöttisch liebt. Ein Kind, mit dem die Mutter, vergleichbar ihren Vorgängerinnen im 19. Jahrhundert, vorerst gar nichts anfangen kann. Im Gegensatz zu Flaubert, Tolstoi und Co, die den Nachwuchs ihrer Heldinnen wenig beachten, verleiht die Autorin diesem Mädchen eigene Konturen und ein renitentes Wesen.

Frau Sartoris beginnt sich erst für die Tochter zu interessieren - dann aber umso gründlicher -, als ihr zweiter Versuch zu lieben kläglich scheitert und sie der Mann, mit dem sie nach Venedig durchbrennen wollte, sitzen lässt. Ist dieses frivol gekleidete Wesen, das sie eines Nachts neben einem zwielichtigen Typ in einer Rotlichtbar entdeckt, wirklich ihr Fleisch und Blut? Mit suggestiver Überzeugungskraft beschreibt Schmitter, wie die gekränkte Frau ihren seelischen Tod nach außen kehrt und im Liebhaber der Tochter das Ziel ihrer Aggressionen findet. Irgendein Mann muss in diesem Roman sterben, das ist von Anfang an klar. Nach Erscheinen ihres Debütromans war die Autorin auf alles gefasst: "Ich hab mir gedacht, das Buch werden sie mir um die Ohren hauen." Doch dann erntete es euphorische Kritiken, wurde im "Literarischen Quartett" besprochen, von Marcel Reich-Ranicki gelobt und in 15 Sprachen übersetzt.

Mit ihrem aktuellen Werk Veras Tochter knüpft Schmitter nun unmittelbar an ihren Erstling an. Was passiert, wenn eine ebenso fantasiebegabte wie neurotische Leserin in einem Roman ihr eigenes Leben wiederzufinden glaubt? War es nicht ihre große Schülerliebe, die von einem auf den anderen Tag verschwand, war es vielleicht ihre Mutter, die den Liebhaber ermordet hat? Ist vielleicht das der Grund für die gähnende Leere in ihrem Innern, für ihre Liebesunfähigkeit, die sich weder weginterpretieren noch -therapieren lässt? "Ich habe es immer gespürt. Soweit man etwas spüren kann, das fehlt. Bevor man noch weiß, daß es da sein 'müßte', bevor man noch weiß, was 'normal' ist. Und wie das Glück sich anfühlt, das die anderen haben."

Es ist ein exemplarisches Frauenschicksal der heute Mitte Vierzigjährigen, das Elke Schmitter beschreibt, die Generation, der sie selbst angehört. Ein Schicksal, das vielleicht vor allem darin besteht, kein herzeigbares Schicksal zu haben. Es seien komfortable Biografien ohne Existenznot, meint die Autorin, in denen doch etwas Essenzielles fehlt. Beim Schreiben des Buchs habe sie vor allem Atmosphärisches im Hinterkopf gehabt. Hannes Waders penetrant in die Länge gezogenes Lied "Langeweile ist ausgebrochen in der Stadt". Vielleicht auch Leonard Cohens endlos hingeleierte Songs, die keinen Anfang haben und kein Ende finden.

Die Fadesse der deutschen Randstädte, in denen am Wochenende der Überdruss regiert und viel mehr Zeit vorhanden ist, als man je totschlagen kann. In so einer Stadt wächst Veras Tochter auf, in so einer Stadt verliebt sie sich in einen geheimnisvollen Mann, in so einer Stadt hasst sie ihre Mutter, die auch noch Träume hat, die enttäuscht werden. Die kleine Stadt wird nach dem Abitur verlassen, die Metropole Berlin, in die sie zum Studium zieht, ist voll von resignativen Leidensgenossen, die durch die Heilerszene tigern. Uni, WG, Karriere als Übersetzerin, keine Männer, stattdessen eine Geliebte, mit der sich das Leben befrieden lässt. Alles verläuft quasi normal, aber nichts stimmt. Alles verläuft normal bis Veras Tochter den Roman Frau Sartoris von Elke Schmitter liest und glaubt, ihr Unglück zu begreifen. Und ist es kein Unglück, nicht glücklich sein zu können?

"Das konnte kein Zufall sein", denkt sie bei Lektüre des Romans, der zu allem Überfluss auch noch im "Literarischen Quartett" besprochen wird. Sie glaubt, zwar nicht die Lösung, aber doch den Grund für ihre Probleme gefunden zu haben. Eine Mutter, die den Liebhaber der Tochter ermordet hat, dürfte nicht jede haben. "Das konnte kein Zufall sein." Oder doch? Die Leserin schreibt einen Brief an die Autorin von Frau Sartoris und bekommt eine Antwort von Elke Schmitter höchstpersönlich, die wohl-temperiert auf allgemein-menschliche Befindlichkeiten und literarische Vorbilder wie Madame Bovary verweist. Das habe ihr großen Spaß gemacht, meint Schmitter, einen just so tantenhaften Brief hätte sie einer identifikationssüchtigen Leserin im Ernstfall geschrieben und dann gehofft, dass sich die Frau nicht vor den Zug wirft. Bis jetzt sei das alles Fiktion, aber vielleicht passiere es ja noch. (DER STANDARD, Print, 13./14.5.2006)