Lateinamerika, das sich von seiner großen Abhängigkeit von den USA lösen will, ist, wie symbolisch dieser Indio in Brasilien, auf Kontaktsuche. Die Staaten der EU (aber auch China und Japan) bieten sich als strategische Partner an.

Foto: Magnum, Collage: Beigelbeck
"Strategische Partner" wollten sie werden, gelobten die Staaten Lateinamerikas und die Europäische Union schon 1999. Doch das theoretisch Erfolg versprechende Bündnis blieb bisher hinter den Erwartungen zurück. Beim großen EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel soll diese Woche in Wien ein Neustart versucht werden.

****

Kaum eine andere Region der Welt liegt Europa politisch und kulturell näher als das demokratische Lateinamerika. Gemeinsam ist beiden das Engagement für Menschenrechte, Demokratie und Multilateralismus. Lateinamerika stehe an erster Stelle, wenn es darum gehe, Bündnisse zu schmieden, heißt es zumindest in einer vor dem Wiener Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs beider Regionen veröffentlichten Mitteilung der Europäischen Kommission. Doch will die beim ersten Gipfeltreffen in Rio de Janeiro 1999 beschlossene "strategische Partnerschaft für das 21. Jahrhundert" nicht so recht in Gang kommen.

In den Neunzigerjahren nahmen Beobachter einen verstärkten Wettlauf zwischen den USA und Europa um die Märkte Lateinamerikas wahr. 1994 trat der nordamerikanische Freihandelsvertrag (Nafta) zwischen USA, Kanada und Mexiko in Kraft. Ein Jahr später zog die Europäische Kommission mit einem Strategiepapier nach. Dieses Dokument gab den Anstoß zu engerer Zusammenarbeit über den Atlantik hinweg. 48 Staats- und Regierungschefs verständigten sich in Rio de Janeiro 1999 auf eine strategische Allianz, die auf politischem Dialog, wirtschaftlicher und kultureller Kooperation beruhen sollte.

Seit 1999 laufen auch Verhandlungen über ein biregionales Assoziationsabkommen zwischen Europäischer Union und Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay). Von Beginn an verkündete die EU, die Integration der lateinamerikanischen Länderblöcke zu unterstützen. Freihandelsabkommen wurden jedoch erst mit jenen Staaten abgeschlossen, die am wenigsten in die lateinamerikanischen Blöcke integriert sind: 1997 mit Mexiko und 2002 mit Chile (am Rande des zweiten Gipfeltreffens in Madrid). Den Abkommen sind Menschenrechts- und Demokratieklauseln beigefügt.

Soziale Kluft

Das dritte Gipfeltreffen 2004 in Guadalajara (Mexiko) zeitigte keine besonders spektakulären Ergebnisse. Die lateinamerikanischen und europäischen Delegationen debattierten über ein multilaterales Vorgehen im Rahmen der Vereinten Nationen. In der Schlussdeklaration grenzten sie sich von der Politik der USA ab: Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag und das Kioto-Abkommen zum Klimaschutz sollten unterstützt, die Folterungen an irakischen Kriegsgefangenen durch US-amerikanische Soldaten indirekt verurteilt werden. Auch für das zweite Hauptthema, den sozialen Zusammenhalt der von extremer Kluft der Einkommen betroffenen Länder, fiel die Gipfelerklärung vage aus.

Konkretes Resultat war das mit 30 Millionen Euro für ganz Lateinamerika gering dotierte Sozialprogramm EuroSocial. Die Verhandlungen mit dem Mercosur über ein Freihandelsabkommen sollten in Guadalajara ihren Abschluss finden. Um dieses Kernstück der strategischen Partnerschaft spießt es sich aber weiterhin. An Differenzen über den Abbau von Agrar- und Industriezöllen droht das Abkommen zu scheitern.

Gemäß Raúl Bernal-Meza, Politologe an der Universität von Buenos Aires, hätte eine pessimistischere Sicht der europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen den Optimismus der Neunzigerjahre abgelöst. "Nach fast zehn Jahren zeigen die Ergebnisse der Verhandlungen, dass das Ziel, die strategische Allianz mit biregionalem Freihandel zu verbinden, zu ehrgeizig war", sagte Bernal-Meza kürzlich bei der Tagung "Real 2006" in Wien. Die Verhandlungen zwischen den beiden Gemeinschaften sollten unter neuen Vorzeichen wieder aufgenommen werden. Bernal-Meza hält es für wichtig, die Ungleichheit der beiden Blöcke stärker einzubeziehen. Die EU ist für Gesamtlateinamerika der zweitwichtigste, für den Mercosur gar der wichtigste Handelspartner. Hingegen macht für die Europäische Union der Außenhandel mit dem Mercosur nur drei Prozent aus. Während die EU vor allem Industrieprodukte ausführt, liefert der Mercosur hauptsächlich Agrarprodukte.

Fehleinschätzungen

"Im Mercosur wurde das Ausmaß des Agrarprotektionismus der EU unterschätzt. Die EU wiederum hat die Bedeutung des Agrarbereichs für den Mercosur unterbewertet", findet Joachim Becker von der Wiener Wirtschaftsuniversität. "Ein Freihandelsabkommen wäre für das südamerikanische Agrobusiness vorteilhaft, aber nicht zum Nutzen der Kleinbauern. Es würde eine Einengung des Exports auf den Agrarbereich bedeuten und keine positiven Effekte auf den industriellen Sektor der Länder des Mercosur haben. Die nationale Wirtschaftspolitik würde weiter eingeschränkt", fällt Beckers Urteil aus.

Das US-Projekt einer gesamtamerikanischen Freihandelszone (Alca) ist seit 2003 eingefroren. Das EU-Mercosur-Abkommen liegt seit 2004 auf Eis. "Die EU akzeptiert den Mercosur als Verhandlungspartner. Alca würde hingegen das Ende des Mercosur bedeuten. Die USA versuchen nun, Alca über bilaterale Abkommen durch die Hintertür zu verwirklichen", meint Becker. Seit dem Gipfel von Guadalajara werden die Fortschritte der Integration der Andengemeinschaft und der zentralamerikanischen Staaten evaluiert. Das Europäische Parlament sprach sich dafür aus, beim Wiener Gipfeltreffen Verhandlungen über Assoziations- und Freihandelsabkommen mit diesen beiden Ländergruppen aufzunehmen.

Auch mit den Staaten der Karibik, zusammengeschlossen in Cariforum und Caricom, verhandelt die EU über ein Wirtschaftsabkommen. "Die EU läuft Gefahr, ab Wien mit Zentralamerika und der Andengemeinschaft die Frustrationen der Verhandlungen mit dem Mercosur zu wiederholen. Die EU sollte sich überlegen, ob ihre Strategie nicht dazu führe, das Vorgehen der USA in Form bilateraler Verträge erfolgreicher erscheinen zu lassen", befürchtet Ramón Torrent, Leiter von Obreal, einem von der EU gefördertem akademischen Netzwerk europäischer und lateinamerikanischer Institutionen.

Kooperation Kleiner

"Es könnte hilfreich sein, sich nicht ausschließlich auf Handelsfragen zu konzentrieren. Stattdessen könnten Direktinvestitionen von industriellen Klein- und Mittelunternehmen aus Europa in Lateinamerika begünstigt werden. KMUs könnten in Lateinamerika eine ähnlich entscheidende Rolle wie in Europa spielen. Dazu sollten Kooperationen zwischen lateinamerikanischen KMUs gefördert werden", schlägt Torrent vor. Tatsächlich ist die Europäische Union zum größten ausländischen Investor in Lateinamerika geworden.

Die Europäische Union ist inklusive ihrer Mitgliedstaaten der größte Geber von Entwicklungshilfe in Lateinamerika. Neben der finanziellen Vorschau für die Gemeinschaftshilfe für die Jahre 2007 bis 2013 steht auch die künftige Lateinamerika-Fazilität der Europäischen Investitionsbank an. Die Europäische Kommission empfahl dafür, in länderübergreifende Infrastruktur zu investieren und sich an den Erfahrungen mit den transeuropäischen Netzen zu orientieren.

Vor dem Gipfeltreffen in Wien hat das Europäische Parlament vorgeschlagen, eine transatlantische Versammlung Europa–Lateinamerika einzurichten. Ergänzend zu den Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs sollten dabei Abgeordnete des Europäischen Parlaments mit Mitgliedern ihrer lateinamerikanischen Pendants zusammenkommen. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.5.2006)