Pharoah Sanders : "Anthology - You'Ve Got to Have Freedom" (Emarcy Rec /Universal)

Foto: Emarcy Rec /Universal
Neuheiten aus der Musikgeschichte: Eine 6-CDs-Box dokumentiert eine hitzige Episode in der Jazzrock-Phase von Miles Davis. Eine Anthologie würdigt Saxophonist Pharoah Sanders.


Keiner, der nicht entzückt war, einmal beim alten Trompetengrantler und Jazzkonzeptualisten von multipler historischer Bedeutung zu spielen. Da Miles Davis immer ein gutes Auge für umtriebige Individualisten hatte, die nicht genug Talent hatten, (dauerhaft nur) einem Meister zu dienen, und selbst Wunderknaben mit Visionen waren wie John Coltrane, Wayne Shorter, Tony Williams, Chick Corea, Herbie Hancock und Joe Zawinul, aus denen doch irgendwann eigene Projekte herauszusprudeln begannen, sind Davis-Bands mitunter Momentaufnahmen hitziger Musikdiskurse im Geiste des personellen Kommens und Gehens gewesen. Andererseits sind die Projekte von Miles, speziell jene, bei denen es um die Integration von Funk, Rock und benebelnder Klangelektronik ging, auch Meditationen über die Möglichkeiten spontaner Kreativität gewesen. Es waren offene Kunstwerke, die Session-Situationen brauchten, also flexible Versuchsanordnungen, die zwar von individuellen Leistungen lebten, aber sich eigentlich in jedweder personeller Konstellation entwickeln konnten - die Qualität des einzelnen Musikers vorausgesetzt.

So eine Momentaufnahme ist nun auf einer 6 CD-Box erhältlich; "The Cellar Door Sessions" (SonyBMG) fangen vier Abende aus dem Jahre 1970 ein. Manches davon ist zwar schon auf "Live-Evil" veröffentlicht worden. Aber hier sind die kompletten Sets aus dem Cellar Door Club eingefangen, bei denen Keith Jarrett an den Keyboards, Gary Bartz am Saxophon, Michael Henderson am E-Bass und Schlagzeuger Jack DeJohnette zu hören sind - teils sind auch Percussionist Airto Moreira und Gitarrist John McLaughlin zugegen, der meinte: "Zu dieser Zeit kämpfte ich sehr mit mir, versuchte, das musikalisch zu artikulieren, was ich innerlich fühlte. Aber ich war nicht alleine, wir alle gingen in jener Zeit durch eine große Transformation. Es war eine Phase der starken Veränderungen, spirituell und soziologisch, und die Herausforderung zu haben, das alles auf der Bühne mit Miles ,durchkämpfen' zu können, war sicherlich eine der größten Gnaden in meinem Leben." Einzelne Titel treten hier öfters auf, sie gleichen einander jedoch nur rudimentär. Was klar ist: Die Nummern selbst bestehen höchstens aus kleinen Phrasen, Bass-Linien, Stimmungen und Grooves, bieten gerade jenes nötige Minimum an Form, um einen gewissen Zusammenhalt von Struktur und Kommunikation zu garantieren. Man taucht hier vor allem in Miles' Wah-Wah-Phrase ein, herzhaft impulsiv gackert der einst lyrische Trompeter und setzt markante Farbakzente. Und wer Keith Jarrett als versonnenen Narziss des akustischen Klaviers kennt, der wird sich wundern, einen am Fender Rhodos ausgelassen tobenden, widerborstigen Grübler zu hören, der sich dennoch gesprächsfähig gibt. Das Ganze klingt funky, nervös, grob, bietet viel Platz für Monologe. Es sind mit Intensität aufgefüllte Musikräume entstanden, dokumentierte Grübeleien über die schöpferischen Möglichkeiten von Echtzeitarbeit.

Die Jazzrock-Phase von Miles hat Spuren hinterlassen und Folgen gehabt. Bis heute. Legt man etwa die Neuheit von Trompeter Roy Hargrove und seiner Soul-Funk-Band "The RH Factor", "Distractions (Universal), auf, muss man daran denken. In dieser Aufnahme mit eher schwankender Qualität sind die groovigen Ideen von Miles präsent, ergänzt durch ein bisschen Soul-Kitsch. Alle Höhen und Tiefen des Davis-Stils werden hier gewissermaßen thematisiert - Hargrove allerdings beherrscht sein Trompetenhandwerk.

Wer an Miles die "Unendlichkeit" schätzt, die üppige zeitliche Ausdehnung der Stücke, der wird auch bei Pharoah Sanders gut aufgehoben sein. Der Mann, der den Stil von Saxophonist John Coltrane an der Seite des Innovators verinnerlicht hat und seitdem weiterträgt, wird mit einer Anthologie (Universal) gewürdigt, die für Einsteiger eine gute Gelegenheit bietet, sich in die Bereiche des hymnischen Jazz vorzuwagen. Von Sanders lernen, heißt, sich Zeit zu nehmen. Zeit, in einen quasi ekstatischen Zustand zu geraten, der Kräfte freisetzt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5.5.2006)