Es war am ersten Mai. Und seither ist man in unserem Viertel davon überzeugt, dass wir im Kreuzberg von Wien leben. Oder in der Hafenstraße. Oder so ähnlich. Margareten ist ein Pulverfass. Weil hier, direkt unter meinem Wohnzimmerfenster, der Bär steppte. Ich behaupte zwar: auf Zehenspitzen in Filzpantoffeln – aber die Legende lautet anders.

Unter unserem Haus war nämlich Straßenkampf. Da haben Schweinesystem und Bullenstaat ihre wahre Fascho-Fratze gezeigt. Jedenfalls haben das ein paar Autonömchen so skandiert. Aus meiner Fenster- und Balkonperspektive sah das zwar ein bissi komplett anders aus – aber am ersten Mai wollen wir Spießer keine Spaßverderber sein. Darum: Es war Revolution. Zehn Sekunden lang...

Foto: A. Starl

Explosive Stimmung
Freilich: Der Ärger hat früher begonnen. Lunte und Pulver lagen bereit - es fehlte nur der Funke. Aber das hatten weder A. noch unsere Nachbarin mitbekommen. Ich schon. Ich war ausgeschickt worden, Eis zu holen. Und da sah ich den Bullen-Hinterhalt. Für mich stand da zwar lediglich ein Polizeibus vor dem Arbeitsamt nahe der Pilgramgasse – aber im Nachhinein sieht die Sache natürlich anders aus.

Aber das Sytem provozierte das Volk: Bei der Pilgramgasse gab es den ersten Eklat. Der 13A fuhr nicht weiter. Wer zur Mariahilfer Straße wollte, musste gehen. Ein Mann im Trench flippte aus – und beschimpfte einen Wiener Linien-Mitarbeiter. Der drohte, einen der umstehenden Polizisten zu Hilfe zu rufen, sollte der Mann ihn anrempeln: Die Staatsmacht (zum Schein rauchend und gelangweilt) war zum Angriff bereit. Und ich Feigling beschloss, das Eis statt auf der Mariahilfer Straße am Margareten Platz zu kaufen. Das ist nämlich auch super...

Foto: A. Starl

Euromayday
Mittlerweile war auch die Demo („Euromayday“) auf die alles wartetet, bei der Pilgramgasse. Ein paar hundert Hanseln. Vermummte inklusive. Vermutlich immer noch die selben 30 paranoiden Deppen, die ich früher anhand der Sticker auf ihren Jacken identifizieren konnte. Eine Leistung, die – wäre ich Vertreter des Bullenstaates – ein Beleg für die totale Überwachung des Bürgers wäre.

Ich ging Richtung Eissalon. Die Demoroute auch. Jedenfalls standen da Polizisten herum. Aber die Demo bog ab. Nach rechts: Auf die Rechte Wienzeile. Stadtauswärts. Ich überlegte, ob ich Waffeln oder Hohlhippen kaufen sollte...

Foto: A. Starl

Wiedersehensgewissheit
Dass ich die Demo wieder sehen würde, war mir trotzdem klar: Die Wienzeile kurvt schließlich beim Arbeitsamt auf die Schönbrunnerstraße. Und da die Demo angeblich zum Bacherpark wollte, würde man hier wohl wieder stadteinwärts schwenken. Und an P.s Wirtshaus, der Stylingagentur und der Pizzeria vorbei zum Apple-Shop latschen. Dort würde ich die Technokinder also wieder sehen.

Ich hatte mich verrechnet. Erstens, weil ich schneller war. Zweitens, wie irgendeiner Häuserkampf spielen wollte. Also saß ich schon am Balkon meiner Nachbarin und verteilte das Eis – als die Schönbrunnerstraßenschlacht losging. Die Demo hatte sich nämlich ­ wie erwartet ­ beim Arbeitsamt in Richtung Computershop gewandt, als irgendwer stadtauswärts los rannte. Und weil wenn einer rennt alle nachrennen, brach Hektik aus: Alles rannte, ein Trum flog und plötzlich brüllte jemand, dass das Haus schräg gegenüber vom Balkon der Nachbarin gestürmt werden solle...

Foto: A. Starl

Masse ist doof
Es liegt nicht in der Natur einer rennende Menge „wieso eigentlich?“ zu fragen. Und so standen dann dreihundert Leute vor meinem Nachbarhaus und starrten böse auf die davor hektisch aufgezogenen Polizistenreihen in Riot-Outfit. Oben, aus den Fenstern des Hauses, glotzten die Bewohner hinunter. Keiner wußte, wieso man jetzt und hier genau so aufgestellt war. Wir standen auf Nachbarins Balkon und glotzen mit.

Wenn die Polizei etwas abriegelt, unterstellt man ihr ja als Demonstrant zunächst einmal prinzipiell Böses. Man drängelt, einer schmeißt mit irgendwas das „Bumm“ macht ­ und weil man das als Polizist nicht angenehm und lustig finden muss, pfauchte nach kurzer Zeit ein Pfefferspray-Feuerlöscher. Die Menge wich zurück, die Polizisten rückten nach. Irgendwer rief „Scheiss Bullen“ – und ein paar Helden der Revolution, die den Spray ins Gesicht bekommen hatten, ließen sich vor P.s Wirtshaus verarzten. Mein Eis schmeckte kurz ein bisserl nach Pfeffer. Eine interessante Nuance...

Foto: A. Starl

Legendenbildung
Das hier sei, brüllte jemand, schlimmer als in Genua. „Unsere Polizisten“, skandierte eine Gruppe, „Mörder und Faschisten.“ Damit war gesagt, was gesagt werden musste. Die Grenzen der Schwarzweiß-Welt waren wieder klar nachgezeichnet. Die Demo konnte weiter ziehen.

Ich verteilte die nächste Portion Eis. Als ich am Abend Pizza holen ging fragte mich jemand auf der Straße, ob ich auch etwas abbekommen hätte: Die Geschichte von der wüsten Schlacht hätte schon die Runde gemacht – und es sei faszinierend, wie rasch das System die ausgebrannten Autos abtransportiert und alle anderen Spuren der Ausschreitungen beseitigt habe.

Foto: A. Starl