Nachts kann Miriam nicht schlafen. Sie denkt daran, wie leicht doch Krieg sein kann, ohne dass man es ein paar hundert Kilometer weiter weg bemerkt. Und wie viel blanke Gewalt rund um die Menschen im angeblich friedlichen Teil des Landes zu finden ist."

Miriam, die Protagonistin dieses autobiografischen Romans, ist ein nahezu perfektes Spiegelbild der Autorin: Die ORF-Korrespondentin Susanne Scholl lebt seit 1991 in Russland. So wie sie ist auch Miriam Mitte 50, wohnt seit ungefähr zehn Jahren in Moskau, ist vieler Sprachen mächtig, hat in Rom studiert und zwei Kinder allein großgezogen. Und ähnlich wie eine Journalistin beschäftigt sich auch Miriam, als Übersetzerin arbeitend, mit dem Grauen, durch das Russland "so viele Jahrzehnte lang gegangen ist, und durch das es auch jetzt oft noch zu gehen hat." Miriams Interesse gilt nicht nur dem Krieg in Tschetschenien, dessen Wurzeln sie luzid bis zur mörderischen Willkür der Stalinzeit zurückverfolgt und dessen Früchte, in Form von Terror, Russland noch heute erntet. Sie beschäftigt sich auch mit dem Terror der braunen Barbaren, vor dem ihre Mutter damals – nach dem Anschluss – aus Wien nach England floh, wo sie Miriams Vater kennen lernte, der ebenfalls ein Exilant war.

Mit ihrer Mutter unternimmt Miriam also eine Reise an die Orte dieses Exils. Nach London, Bradford und Leeds. Und immer wieder stellt sich ihr dabei die Frage, wie ihre Eltern – Juden und Kommunisten – es damals anstellten, nicht an dem großen Schnauzbart zu zweifeln, als der seinen Pakt mit Hitler schloss.

Schon bevor Arthur Köstler in Sonnenfinsternis berichtete, was sich unter Stalin zutrug, gab es ja Hinweise. Aber das wollte von den Kommunisten im Westen damals niemand hören. Warum? Miriam findet eine Antwort darauf, als sie sich fragt, woran sich denn die im abweisenden Exil halten hätten können: "Die wollten vielleicht gar nicht wissen, was in jenem Land geschah, das ihre einzige Hoffnung zu sein schien. Wer sich nicht anhalten konnte an diese einzige Hoffnung, der ging unter. Die Angst, keine Hoffnung mehr zu haben, keinen Halt, die muss sie wohl dazu gebracht haben zu glauben, ohne zu fragen." Und die Angst, die Hoffnung zu verlieren, die kennt Miriam im Russland der Putin- Ära sehr gut.

Diese Angst zeigt sich, wenn einer Freundin der Protagonistin in der U-Bahn die Geldbörse gestohlen wird, was für sie, die ohnehin stets in Geldnöten ist, das Fass zum Überlaufen bringt: "An eine nachhaltige Lösung ihrer Probleme, so sagt sie Miriam, glaubt sie längst nicht mehr. Eine Hoffnung auf ein bisschen Ruhe gebe es in diesem Land der sozialen Ungerechtigkeiten nicht. Sie werde arbeiten müssen, bis sie umfalle, und habe nur den einen Wunsch, dass dies so früh wie möglich eintreten möge. Miriam versagt vor diesem Übermaß an Resignation die Sprache."

Den Wunsch, tot umzufallen, hatte ein anderer Freund von Miriam, der Fotograf Viktor nicht. Nur wird der eines Tages vor seinem Haus erstochen. Schlimmer als in Moskau und in den russischen Kasernen ist die Lage nur noch in den Bergen. Dort trifft sie auf eine Frau, Salima, die ihr wie ein Spiegelbild erscheint. Zum ersten Mal sieht Miriam Salima vor einem abgestellten Zug, in dem diese und viele andere Flüchtlinge wohnen. Salima, lächelnd und perfekt geschminkt, "trat Miriam damals entgegen, als empfange sie die Botschafterin eines befreundeten Landes in ihrer großzügigen Residenz. Sie führte Miriam durch den Zug und durch die Zelte, zeigte ihr, wo das Essen zubereitet wurde und wo man mithilfe von Menschen aus reicheren Ländern Schneiderei und Bäckerei aufgebaut hatte. Zwischendurch bot sie Miriam Tee an und tat in allem so, als lebe sie ein ganz normales Leben. In einem Zugabteil."

Als Miriam das nächste Mal zu Salima kommt, ist deren Mund "zu einer bitteren Furche in ihrem Gesicht geworden." Warum? Weil in der Zwischenzeit in einem Moskauer Theater ein Musical zu einer blutigen Tragödie geworden ist. Salima lebt nun unter dem "kalten, leeren Blick der Besatzer, die sie jetzt nicht einmal mehr frei in den nächsten Ort gehen ließen; die Kinder lernten in einem Gebäude, auf das ein Panzer ziele". Resigniertes Fazit von Salima: "Das sei kein Leben, das man leben könnte, ohne selbst zum Mörder zu werden."

Auch in zwei weiteren, ungleichen Paaren blitzt das Spiegelmotiv, das sich durch den Roman zieht, auf: Da ist einerseits der Großonkel von Miriam, der nach dem Anschluss mit seiner sechsjährigen Tochter ins Exil nach Riga geht. Von dort verschlägt es die beiden dann nach dem titelgebenden (kasachischen) Karaganda. Jenes Karaganda, das für Miriam darum ein Symbol für enttäuschte Hoffnungen wird. Weil dort ihr Großonkel und seine Tochter in einem Gulag dahinvegetierten, der die Illusion des besseren Lebens im Sozialismus zerstörte.

Und da ist andererseits Paul, der ihr den Hof macht. Die Geschichte der Beziehung zum ihm, der zwanzig Jahre jünger ist und von dem Miriam nie weiß, ob er sie als Frau oder als Mutter begehrt, findet ihren Höhe- und Wendepunkt bei einem Spaziergang am Patriarchenteich, jenem Ort in Moskau, an dem Miriam "wohl leben wollte, wenn man ihr die Wahl ließe".

Aber man hat als Mensch eben nicht immer die Wahl. Im Makrokosmos der Gesellschaft ist man immer ein potenzielles Opfer der Macht. Und im Mikrokosmos der Beziehung stets auf die Gunst des anderen Menschen angewiesen. Dennoch – obwohl die Welt gestern nicht heil war und heute nicht heil ist – wird nicht dem Hass und der Resignation das Wort geredet, sondern mit Mut und Humor der Hoffnung und der Liebe.

Susanne Scholl erzählt in Reise nach Karaganda – so wie auch in ihrem ersten Roman Elsas Großväter, in dem sie die Geschichte der Deportation ihrer Großeltern berichtete – wahre Geschichten von fast biblischem Format. Und sie lässt sich von deren Wucht nicht zu Kurzschlüssen hinreißen, sondern zu erzählerischer Finesse inspirieren. Sehr stimmig ist auch die Sprache, mit der Susanne Scholl ihr Alter Ego zum Leben erweckt. Man empfindet diese Miriam und ihre Welt als große Bereicherung. Ein geglücktes, absolut lesenswertes Buch. (DER STANDARD, Printausgabe vom 29./30.4.2006)