Ingo Schulze:
"Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa"
Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze. € 24,70/790 Seiten. Berlin Verlag, Berlin 2005

Foto: Berlin Verlag

Nur um den Preis einer Erzählverschiebung zu haben: der ultimative "Wenderoman". Sein Autor: Ingo Schulze.

Foto: STANDARD/Cremer
Dem deutschen Feuilleton galt Ingo Schulzes Romanprojekt Neue Leben lange als Projektionsfläche für seine Sehnsucht nach dem großen Roman über die Wendezeit 1989/ 90. So lange, bis irgendwann fast niemand mehr daran glauben wollte, dass das Buch tatsächlich jemals erscheinen würde. "Ich habe jahrelang keinen Urlaub gemacht, erst allmählich stellt sich langsam eine gewisse Entspannung ein", sagt Ingo Schulze heute. Vergangenes Jahr wurde Neue Leben schließlich doch fertig, zurzeit befindet sich Schulze, der mit seinem ersten Roman Simple Stories (1998) sehr erfolgreich war, damit auf Lesereise.

Schulze, 1962 in Dresden geboren, ist erst seit Mitte der 90er-Jahre Schriftsteller. Davor war er nach einem Studium der klassischen Philologie erst Theaterdramaturg und dann Journalist, als solcher kurz nach dem Mauerfall sogar Herausgeber eines Anzeigenblatts. Irgendwann ist Schulze aufgegangen, dass seine Vita einen erstklassigen Romanstoff hergibt: "Dieser Wechsel von einer Theaterposition in eine ökonomische Position, das hätte ich mir kaum besser ausdenken können. Das Wichtige ist aber natürlich trotzdem die Erfindung."

Der Blick, den Ingo Schulze auf die Welt hat, ist ein anderer als der seines Helden Enrico Türmer, aus dessen Briefen zwischen Jänner und Juli 1990 der Roman besteht. Türmer, das wird bei der Lektüre schnell klar, ist eine wenig vertrauenswürdige und auch nur bedingt sympathische Erzählerfigur, die sich die Welt und ihr Leben unter höchster Anstrengung zurechtschreibt. Schulze: "Diese Figur erlebt beruflich und erinnert in ihren Briefen einen Weltenwechsel. In der DDR nahm der Literat eine sehr wichtige Position ein. Plötzlich lebt Türmer aber nun in einer Welt, in der die Zahlen die Worte verdecken."

Nach dem 9. November 1989 stürzt Türmer, dessen literarische Versuche sich im Anhang zu Neue Leben finden, in eine Schreibkrise. Sein Thema hat ihn verlassen: "Was sollte ich, ein Schriftsteller, ohne Mauer?" Umso bedenkenloser begibt sich Türmer als Neojournalist in die Hand diabolischer Geldgebergestalten wie dem schillernden Clemens von Barrista.

Der Teufel, der in diesem Buch in mehrerlei Gestalt auftritt, kriegt mit seinem Geld alles und alle. "Mir wurde einmal in Argentinien meine Kreditkarte gestohlen", bemüht Schulze einen Vergleich. "Als ich aufgelöst ins Goethe-Institut kam, sagte man mir: ,Beruhigen Sie sich, das ist uns allen schon passiert. In einer Woche haben Sie eine neue Karte.' Das Tolle am Kapitalismus ist ja, dass er funktioniert."

Auch Schulzes Held funktioniert einwandfrei. Bis in die Nacht hinein macht er Geschäfte, frühmorgens schon wieder verfasst er seine Briefe. Der Teufel hat's gerichtet, dass Türmer kaum Schlaf braucht. Ironischerweise schreibt er nun ausgerechnet als geschäftiger Unternehmer mit den Briefen jenes literarische Werk, das ihm zuvor nie gelingen wollte.

Das ist nicht die einzige Ironie dieses 800-Seiten-Romans. Als Korrektiv hat Schulze seinem Türmer einen Herausgeber zur Seite gestellt. Dessen Fußnoten zu den langen Briefen gestalten sich jedoch derart pedantisch, dass der Leser auch vor seinen Wahrheiten auf der Hut sein sollte. Noch dazu, wo der Herausgeber Ingo Schulze heißt. Der Über-Autor: "Ich hoffe, dass dieser Herausgeber außer dem Namen mit mir fast nichts gemein hat. Für mich war es einfach sehr wichtig, dass es in diesem Buch keinen Fixpunkt gibt. Der Leser darf niemandem vertrauen. Mein Welterleben ist so, dass es nichts Absolutes gibt."

Erzählhaltungen

Ingo Schulzes Texte handeln immer auch davon, wie sich heute - nach Joyce und Musil, aber auch nach der Postmoderne - noch erzählen lässt. Neue Leben ist aber kein mit Theorien überfrachtetes, unlesbares Buch. Hat einen Enrico Türmer einmal in seinen Bann gezogen, dann liest es sich sogar sehr flüssig, ja, derart flüssig, dass man die vom Autor gestellten Fallen und die Komik des Texts teils übersehen kann.

Leicht ist er definitiv nicht zu haben, der große Roman über die deutsche Wendezeit. Aber er ist eines dieser Bücher, das durch eine neuerliche Lektüre noch wächst und sehr lange nachschwingt. Und wann hat man das in der von Buchmesse zu Buchmesse hetzenden Literatur von heute noch? Das nächste Buch dürfte dennoch deutlich kürzer werden, verrät Ingo Schulze am Ende noch. Schon aus Selbstschutz. (DER STANDARD, Printausgabe, 26.04.2006)