Gehsteig, Straße, Radweg: In Haren gibt es da keinen Unterschied, alles ist eine Ebene. Die Verkehrsteilnehmer müssen kommunizieren, um Unfälle zu vermeiden.

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Wien/Amsterdam – Die gut 19.000 Einwohner von Haren müssen einen eigenartigen Eindruck vom Rest der Welt haben. Genauso wie die Einwohner von Makkinga, Drachten und anderen Städten im Osten der Niederlande. Kommen doch immer wieder Busse voll Fremder dorthin, die mit größtem Interesse Straßen und Kreuzungen fotografieren. Als ob es die im Rest der Welt nicht geben würde. Tatsächlich richtet sich das Interesse auf Dinge, die hier fehlen: Gehsteige, Straßenmarkierungen, Verkehrszeichen. Und auf die dahintersteckende Verkehrsphilosophie.

"Es ist mir völlig gleichgültig, ob der Radfahrer rechts oder links an dem Baum vorbei fährt", meint Hans Monderman, während er am Rand der Hauptstraße von Haren steht. Obwohl – "Rand" ist relativ. Schließlich ist die ganze Verkehrsfläche eine Ebene.

Eine Trennung zwischen Fahrbahn, Radweg und Gehsteig gibt es hier nicht. In der vor 30 Jahren entwickelten Vision von Verkehrsplaner Monderman kann sich jeder der gleichberechtigten Teilnehmer selbst seinen Weg bahnen. "Shared Space" – gemeinsamer Raum – nennt sich das Konzept, das seit 2004 auch im Rahmen eines vierjährigen EU-Projektes untersucht und getestet wird.

Dabei geht es nicht einfach darum, alle Verkehrsschilder abzumontieren, wie manchmal berichtet wird. Mondermann geht es um die egalitärere Gestaltung des Verkehrsraums – von konfliktträchtigen Kreuzungen bis hin zu ganzen Städten.

Nimmt man Regeln weg, steigt die Sicherheit

Nimmt man Regeln weg und wird die Verkehrssituation unübersichtlicher, steigt die Sicherheit, ist auch Ben Hamiliton-Baillie vom Shared-Space-Team sicher. Und führt als Beispiel die Kensington High Street in London an: Dort wurden versetzt installierte Gitter, die Fußgänger vom einfachen Betreten der Fahrbahn abhielten, vor drei Jahren entfernt. Jetzt kann dort jeder die Direttissima auf die andere Seite nehmen – die Zahl der Unfälle sank trotzdem um 70 Prozent, weil die Autofahrer vorsichtiger fahren.

Vorsichtiger und damit langsamer, wie Messungen in den Niederlanden ergaben. Die Durchschnittsgeschwindigkeit sinkt von knapp 45 auf rund 15 Stundenkilometer. Zeitverlust bedeutet dies jedoch nicht automatisch. Beispiel Drachten: Nachdem dort eine stark frequentierte Kreuzung beim Busbahnhof umgebaut worden war, mussten die Busse dort nur mehr neun statt früher 55 Sekunden warten.

Kein starres Schema
Allerdings: "Shared Space ist kein starres Schema, sondern kulturabhängig", gesteht Monderman ein. Dora Donosa, Verkehrspsychologin beim ÖAMTC sieht dies ähnlich – und ist bezüglich der raschen Umsetzbarkeit in Österreich skeptisch. "Bei uns haben sowohl Bürger als auch Beamte gelernt, dass alles geregelt werden muss. Eine Verhaltensänderung dauert wohl etwas länger. Und eine sofortige, vollständige, Übernahme des niederländischen Konzeptes auf Unverständnis stoßen", schätzt Donosa.

Dennoch wirbt der Autofahrerclub, der eine Journalistenreise in die Niederlande organisiert hat, für erste Schritte in diese Richtung. Der Schilderwald soll ausgedünnt werden (siehe Artikel: "Überflüssiges Tafeldrittel" ). Im Herbst starten in Eisenstadt, Mödling und St. Veit Pilotprojekte. In der burgenländischen Landeshauptstadt etwa will man eine Woche lang rund 500 Verkehrsschilder, die Experten als überflüssig erachten, mit Säcken verhängen. (Michael Möseneder, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 26.4.2006)