Mit schaudernder Angstlust wird über den Prozess diskutiert, der zur Illustration für den Kampf der Kulturen taugt. Eine junge attraktive Frau, Hatun Sürücü, wurde in einer Berliner Straße ermordet. Tatmotiv: Ihr westlicher Lebensstil habe die Ehre der Familie besudelt. Geschossen hat ihr jüngerer Bruder. Er ist der Einzige, der deswegen verurteilt wurde - zu einer Jugendstrafe von neun Jahren Haft. Seinen mitangeklagten, älteren Brüdern war keine Mittäterschaft beweisbar: Freispruch.

Kulturkampf-Klima

Juristisch wurde nur der Fall Sürücü verhandelt. Medial stand mehr vor Gericht. Denn die Diskussion über den Berliner "Ehrenmord" schlägt deshalb so hohe Wellen, weil der Prozess im Kulturkampf-Klima stattfand: Nach Alarmrufen über Gewalt an Schulen, nach der Erregung über Filme wie "Tal der Wölfe" und "Knallhart", nimmt Deutschland verstört zur Kenntnis, dass es ein knallhartes Integrationsproblem hat. Sorgenvoll wird über Zuwanderer-Parallelgesellschaften philosophiert - so dass man den Eindruck bekommen könnte, Zwangsheiraten und "Ehrenmorde" seien die liebste Freizeitbeschäftigung türkischer Migranten.

Die Schreckbilder-Debatte kommt ohne Forschung über Ursachen aus. Die Analysen gibt es nur in der Türkei, wo bis vor Kurzem das Motiv "Ehre" sogar vor Gericht als Milderungsgrund durchging: Dort passieren die meisten der so genannten "Ehrenmorde" in den tristen Vororten der Großstädte Ankara, Istanbul oder Izmir - dort, wo arme Arbeitsmigranten aus ländlichen Regionen leben. Mit "Ehre" haben die Morde nichts zu tun, sondern mit patriarchalem Besitzdenken. Wenn Männer ihre Frauen und Töchter als Besitz begreifen, können sie eine Trennung nicht akzeptieren. Derartige Eifersuchtsmorde hängen nur bedingt mit dem Islam zusammen, sie passieren auch unter österreichischen Katholiken - nur heißen sie da "Familientragödien".

Nur körperlich angekommen

Der Begriff "Ehrenmord" ist hingegen - wie die Projektionsfläche "Kopftuch" - zur Chiffre für allerlei Unbehagen geworden. Wie fast jede deutsche Debatte schwappt auch diese nach Österreich über - und Probleme zu leugnen hilft genauso wenig weiter wie Probleme zu skandalisieren. Zu lange wurde im Mix aus falschem Toleranzverständnis und schlichter Ignoranz abgestritten oder übersehen, dass manche Migranten Macho-Muster mitbrachten. Viele Zuwanderer sind nur körperlich in Wien oder Berlin angekommen, formuliert es Soziologin Necla Kelek trefflich. Unmissverständlich auf Prinzipien wie Gleichberechtigung zu pochen ist essenziell. Insofern war es richtig, dass Justizministerin Karin Gastinger die Gesetze gegen Zwangsehen verschärft hat: weil es auch Aufgabe des Rechtsstaats ist, die Grenzen des gesellschaftlich Tolerierbaren zu ziehen.

Die Erkenntnis, dass Integration auch eine Bringschuld von Zuwanderern ist, macht das Geschwafel über "gescheiterte Integrationskonzepte" nicht richtiger - denn: Von welchen Integrationskonzepten ist denn die Rede? Von der Verbohrtheit, mit der geleugnet wurde, dass Österreich ein Einwanderungsland ist? Von den schlechten Aufstiegschancen? Von der Tatsache, dass Ingenieure Taxi fahren? In den USA sind Zuwanderer in den Rollen von Politikern, Polizisten, Fernsehmoderatoren zu sehen - live in der Debatte über Immigrationsgesetze. In Österreich hingegen sind die Vorbildrollen nicht von Zuwanderern besetzt. Migranten sind keine Subjekte, sondern stimmlose Objekte der Desintegrationsdebatte.

Die Multikulti-Gesellschaft ist nicht gescheitert. Sie hat nie existiert. Sonst gäbe es etwa viele türkischstämmige Lehrer oder andere Zuwanderer in Aufsteigerrollen. Die Realität ist eine segregierte Gesellschaft: Schulklassen und Wohnbezirke, in denen sich Schüler und Bewohner nicht deutscher Muttersprache drängen. Sie produzieren auch Hoffnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit und Gewalt.

All diese Probleme müssen endlich angegangen werden - und zwar noch bevor in Wien ein "Ehrenmord" vor Gericht verhandelt wird. (Eva Linsinger, DER STANDARD Printausgabe, 15./16./17.04.2006)