Wien – Ein idyllisches Dorf im Südwesten Frankreichs. Kinder toben auf dem Schulhof herum. Im Hintergrund künden Gendarmen mit Suchhunden zunächst kaum merklich drohendes Unheil an. In den kleinen Läden machen Informationen und Gerüchte die Runde – eine junge Frau soll verschwunden sein.
Eine weitere wird wenig später ermordet aufgefunden. Bei einem Schulausflug zu prähistorischen Höhlenmalereien ist ihr Blut auf eines der Kinder getropft. Mademoiselle Hélène, die junge Schulleiterin, entdeckt am Schauplatz des Verbrechens ein Indiz für einen möglichen Schuldigen: den Sohn des Schlachters, den alle Paulchen nennen und der nach fünfzehn Jahren Armeedienst nun das Geschäft seines Vaters übernommen und gerade damit begonnen hat, die allein stehende Hélène vorsichtig zu umwerben.
Le boucher / Der Schlachter aus dem Jahr 1969 ist fraglos eines von Claude Chabrols Meisterwerken. Ein intelligent konstruierter Psychothriller, der im Gewande einer ländlichen Romanze daherkommt, in historische Bezüge eingetaucht und sich zur düsteren Charakterstudie zweier Einzelgänger wandelt. Einer von jenen Filmen, mit denen Claude Chabrol in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren ein erstes Comeback feiert. Auch wenn ihm sein distanzierter, hintergründiger Blick auf die Figuren zu Unrecht den Ruf eines mitleidlosen Zynikers eingebracht hat.
Meist verkörpert darin seine damalige (zweite) Ehefrau Stéphane Audran die weibliche Hauptfigur mit Namen Hélène. Und immer geht es um disfunktionale Familienverbände, um nahezu archaische Schuldverstrickungen, denen auch vermeintlich Unschuldige selten zu entkommen vermögen.
Die Schuld der Sühne
Auch Que la bête meure/ Das Biest muss sterben (1969) gehört dazu: "Ich werde einen Menschen töten . . ." Der Entschluss des Protagonisten steht am Anfang. Ein Unbekannter hat seinen kleinen Sohn überfahren und dann Fahrerflucht begangen. Der Vater, ein Schriftsteller, macht sich daran, den Schuldigen aufzuspüren und den Tod seines Sohnes zu rächen. Er stößt dabei auf einen Patriarchen, der seine Sippe tyrannisiert. Am Ende lässt der Machtkampf der Väter auch die (lebenden) Söhne nicht unberührt.
Mit "Die heillose Familie" hat das Filmmuseum folgerichtig seine derzeit laufende Chabrol-Retrospektive betitelt. Gezeigt wird eine Auswahl aus Chabrols mittlerweile an die 70 Kino- und TV-Filme umfassendem Oeuvre. Darunter auch rare Ausnahmeerscheinungen wie L'oeil du malin (1961) oder Une partie de plaisir aus dem Jahr 1974 (dazugestellt hat man sinnfälligerweise um nichts weniger sehenswerte Filme von Douglas Sirk).
Claude Chabrol, Jahrgang 1930, inzwischen längst eine fixe Größe in der (französischen) Filmgeschichte, studierte zunächst Literaturwissenschaften an der Sorbonne. Bereits als Teenager hat er in seinem Heimatdorf einen Filmclub betrieben, in Paris stieß er zum Kreis um den Filmkritiker André Bazin, zu dem viele der späteren Filmschaffenden der Nouvelle Vague gehören.
Ab 1953 beginnt er für die Cahiers du Cinéma zu schreiben, gemeinsam mit Eric Rohmer veröffentlicht er ein Buch über Alfred Hitchcock. Noch bevor er 1958 seinen ersten Film, Le beau Serge, vorstellt, produziert er einen Kurzfilm von Jacques Rivette. Seine Firma AJYM wird bis zu ihrer Auflösung 1961 noch fünf Spielfilme, darunter Rivettes Paris nous appartient, produzieren.
Zyklische Wiederkehr
Chabrols erste eigene Arbeiten machen auf internationalen Festivals und an den Kinokassen Furore, mit Les bonnes femmes (1960) setzt der erste kommerzielle Einbruch ein. Chabrol verlegt sich auf die Herstellung von Konfektionsware – etwa mit der kurzlebigen Agentenserie Der Tiger . . . –, bevor er mit den eingangs erwähnten Arbeiten wieder zu künstlerischer Hochform aufläuft. Eine Entwicklung, die sich seither zyklisch zu wiederholen scheint, die den Unbeirrbaren jedoch gerade nicht von seiner Arbeitsmaxime, möglichst ununterbrochen zu drehen, abbringt.
Unter den Regisseuren der Nouvelle Vague bleibt Chabrol dabei am konsequentesten dem Genrefilm zugeneigt, den er sich – nicht selten mit Rückblick auf den verehrten Hitchcock – anverwandelt. Seit Mitte der 90er-Jahre tut er dies häufig im Rahmen seiner wiederaufgelebten regelmäßigen Zusammenarbeit mit Isabelle Huppert – aktuell in L'ivresse du pouvoir. Oder in Merci pour le chocolat / Süßes Gift (2000): Auch hier spielt Chabrol souverän mit bürgerlichen Lebenszusammenhängen. Huppert gibt eine herausragende Performance als Schokoladefabrikantin, deren verzweifelte innere Disposition sich langsam manifestiert.