Foto: Süddeutsche Cinemathek
Dass das Adjektiv "melodramatisch" heute als Schimpfwort für jede Art von Gefühlsmüll dient, ist ein ziemlich unfaires Missverständnis. Denn das Melodram selbst ist ein Genre mit klaren und strengen Regeln, eines der schönsten und tiefgründigsten überhaupt. Eine Zeit lang schien es nahezu ausgestorben – bis der dänische Provokateur Lars von Trier 1996 in Cannes diese Bombe platzen ließ. "Breaking the Waves" traf Publikum und Kritik unvorbereitet und deshalb umso nachhaltiger: Ein Regisseur, der bis dahin als berechnender Stilist galt, entfesselte mit Handkamera und Cinemascope die größten denkbaren Emotionen; und seine Hauptdarstellerin folgte ihm bedingungslos auf einem Opfergang, der in der jüngeren Filmgeschichte ohne Beispiel ist. Das Ergebnis ist fast unerträglich schmerzhaft und gerade deswegen schmerzhaft schön.

Ein calvinistisches Dorf, das Urbild rechtschaffener Freudlosigkeit, isoliert auf einer rauen Insel vor der Küste Schottlands. Die junge Bess (Emily Watson) gilt den Gemeindevätern als stark im Glauben, aber schwach im Geist. Mit Skepsis beobachten sie ihre Hochzeit mit Jan, einem Außenseiter von den Bohrinseln (Stellan Skarsgard), doch Bess ist bald am Ziel ihrer Träume: Sie erlebt ihr sexuelles Erwachen mit der Unschuld und Neugier eines Kindes. Dann betet sie zu Gott für die schnelle Rückkehr ihres Mannes, und der erfüllt ihren Wunsch auf die denkbar schrecklichste Weise. Jan kommt nach Hause, querschnittsgelähmt nach einem Unfall. Bess fühlt sich schuldig und beschließt, jedes Opfer für seine Heilung zu bringen. Ihr Abstieg in den Wahnsinn beginnt, als Jan das Undenkbare von ihr verlangt: sich anderen Männern hinzugeben, stellvertretend für ihn, und ihm davon Bericht zu erstatten.

Zu den Regeln des Melodrams gehört, dass die Erzählung stets die schlimmste denkbare Wendung nimmt. Es gibt deshalb Zuschauer, die können "Breaking the Waves" nicht zu Ende anschauen, und andere, die ihn nie ein zweites Mal sehen würden. Man sollte also wissen, dass man sich auf eine gewaltige Erfahrung einlässt, aber das ist genau der Punkt:

Der Weg dieses Films führt über die Grenzen des rational Erklärbaren hinaus – an Orte, deren Existenz wir gerne leugnen. Was anderswo vielleicht gefährliches Gedankengut wäre, kann hier als tragisch, folgerichtig, grausam und wunderbar erscheinen und am Ende von Kirchenglocken, die im Himmel läuten, sogar spirituell beglaubigt werden.

Dazu gehört, dass man sich einer Macht, die angeblich das Schicksal und in Wahrheit die Magie des Regisseurs ist, willenlos hingibt. Und hinterher, ausnahmsweise, überhaupt keine Fragen stellt. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.03.2006)