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Evo Morales (im Bild mit dem slowenischen Staatspräsidenten Janez Drnovsek bei seiner Angelobung Ende Jänner) erreichte bei der Präsidentschaftswahl 54 Prozent der Stimmen und ist somit der erste Politiker im postkolonialen Bolivien, der mit einem derart hohen Stimmenanteil die Wahl für sich entscheiden konnte.

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Zur Person

Robert Lessmann ist frei schaffender Publizist und Consultant. Seine Dissertation schrieb er zum Thema: "Die politische Ökonomie des Kokainhandels und seine Auswirkungen auf die interamerikanischen Beziehungen am Beispiel Boliviens, Kolumbiens und der USA".

Lessmann ist Autor einer Reihe von Studien und Büchern zu Südamerika und Bolivien, u.a. "Drogenökonomie und internationale Politik", "Zum Beispiel Kokain", "Zum Beispiel Bolivien".

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Rund sieben Wochen nach der Amtseinführung sind die Anforderungen an die neue Regierung des Präsidenten und Chefs der "Bewegung für den Sozialismus" (MAS), Evo Morales, hoch: einerseits erwarten sowohl internationale Konzerne als auch die Oligarchie des rohstoffreichen Ostens des Landes Garantien für die Fortsetzung der bisherigen marktwirtschaftlichen Politik, andererseits wünscht die Mehrheit der Bevölkerung Landreformen und Verstaatlichung des Energiesektors.

Im Rahmen einer Veranstaltung des Renner-Instituts zog der Bolivien-Kenner Robert Lessmann eine erste Bilanz: In Bolivien herrsche seit den Wahlen politische Stabilität wie schon lange nicht mehr. Zu erwarten seien Korrekturen am bestehenden System, um die Folgen der neoliberalen Abhängigkeit zu mindern, aber keine revolutionären Veränderungen.

Dazu zählt beispielsweise die Durchsetzung eines Energiegesetzes, das die Erhöhung von Abgaben von ausländischen Unternehmen vorsieht. Im Gespräch mit Berthold Eder und Christa Hager erörtert Lessmann, wie die neue Regierung unter Morales den Forderungen beider Seiten gerecht werden will.


derStandard.at: Inwieweit kann der neu gewählte Präsident die von allen Seiten in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen? Der Gewerkschafter Oscar Olivera warf Präsident Morales im derStandard.at-Interview zum Beispiel vor, sich in Bezug auf das Veränderungspotenzial in Bolivien Illusionen hinzugeben.

Lessmann: Die Erwartungen sind natürlich riesig, die Möglichkeiten allerdings sehr begrenzt. Wenn man allein in Rechnung stellt, dass in Bolivien in den vergangenen Jahren zwischen sieben und zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts ausländische Entwicklungshilfen ausgemacht haben, und dass 100 Prozent der öffentlichen Investitionen über ausländische Entwicklungsgelder finanziert werden, sieht man, wie klein der Verhandlungsspielraum von Präsident Morales ist.


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Robert Lessmann: "Kompromisse wird eine Regierung Evo Morales machen müssen, und zwar nach beiden Seiten."

derStandard.at: Kann die bolivianische Regierung angesichts dieser Abhängigkeit von Hilfsgeldern und dem Druck durch die Auslandsverschuldung überhaupt autonome Entscheidungen treffen? Inwiefern ist sie, beispielsweise durch Entschuldungsangebote, erpressbar?

Lessmann: Es fanden in der Vergangenheit einige Entschuldungsprozesse statt, dennoch liegt in Bolivien die Auslandsverschuldung nach wie vor bei rund 50 Prozent des BIP (etwa fünf Milliarden Dollar) Durch die bestehende strukturelle Abhängigkeit muss sich das Land immer aufs Neue verschulden.

Hinsichtlich der Erpressbarkeit kommt es auch auf die Standfestigkeit der jeweiligen Regierungen an. Kompromisse wird eine Regierung Evo Morales machen müssen, und zwar nach beiden Seiten - sowohl was die internationale Gemeinschaft bei Fragen wie Rechtssicherheit für ausländische Investoren oder wie beim Kokaanbau, als auch was den Druck interner sozialer Organisationen und deren Forderungen betrifft.

derStandard.at: Aus El Alto kam die Drohung, neue Massenproteste zu organisieren, falls die fossilen Energiequellen nicht binnen 90 Tagen wie versprochen verstaatlicht werden. Kann der Präsident diesem Druck standhalten?

Lessmann: Morales kann mit einer größeren Geduld seitens der sozialen Bewegungen rechnen, als jeder bisherige Gegenkandidat gekonnt hätte: aufgrund seiner Herkunft, seines Mandats und seines politischen Werdegangs.

Es gab zwar unmittelbar nach dem Wahlerfolg von unterschiedlichen Seiten die verschiedensten Forderungen: die Pensionisten wollten sofort eine Pensionsreform, die Lehrer bestanden auf einer exorbitanten Lohnerhöhung.

Mittlerweile hat die Geduld zugenommen und der Druck ist weniger geworden. Man hat eingesehen, dass ein Präsident kein Weihnachtsmann ist, der Geschenke verteilt, sondern dass Veränderungen Zeit brauchen.

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Wasserminister Abel Mamani (Mitte) an der Spitze einer Demonstration gegen die Privatisierung der Trinkwasserversorgung

Aus El Alto hat Morales Abel Mamani (Nachlese: Aufruhr in El Alto), einen der führenden Dirigentes und Aktivisten im Kampf um die Wasserversorgung, als Minister für das neu geschaffene Wasserministerium ins Kabinett geholt. Dadurch ist der Druck aus dieser Richtung erst einmal geringer geworden. Aber wenn ihre Forderungen lang- oder mittelfristig unter den Tisch fallen, wird er sicherlich wieder zunehmen.

>>>>> Teil 2: Verfassungsänderungen und lateinamerikanische Kooperation

derStandard.at: Die neue Regierung plant, Bolivien per Verfassungsänderung "neu zu gründen". Wie will man dabei vorgehen?

Lessmann: Am 2. Juli werden die 255 Mitglieder einer verfassunggebenden Versammlung gewählt. Diese "asemblea constituyente" tritt am 6. August zum ersten Mal zusammen und wird mindestens sechs Monate, höchstens aber ein Jahr lang den Entwurf einer neuen Verfassung erarbeiten.

derStandard.at: Die reiche Provinz Santa Cruz will zeitgleich über eine Autonomie abstimmen. Könnte dies zu einem neuen Unruhefaktor werden?

Lessmann: Santa Cruz ist ebenso wie Tarija kein monolithischer Block, der ohne weiteres mit einer Herauslösung aus dem bolivianischen Staatsverband drohen könnte. Denn ein Drittel der Wählerschaft sind auch dort Anhänger des "Movimiento al Socialismo". Am 2. Juli wird parallel zur Wahl der Constituyente ein Autonomiereferendum stattfinden. Wie diese Autonomie dann gestaltet sein wird, das definiert die verfassungsgebende Versammlung.

derStandard.at: Welchen wirtschaftspolitischen Kurs wird die Regierung Morales einschlagen? Im Wahlkampf wurden ja Verstaatlichungen, angefangen vom Erdgas über Mineralstoffe bis zum Waldbestand, angekündigt.

Lessmann: Laut Vizepräsident Alvaro Garcia Linera wird es nicht in Richtung Sozialismus gehen. Er selbst hat von einem "Projecto capitalismo andino-amazónico" gesprochen, dieses Projekt aber bislang nur sehr vage charakterisiert: Ausbau des Staatssektors, entsprechende Abschöpfung von Ressourcen und damit verbunden die Stärkung von Kleinbauern und Kleinbetrieben sowie der Binnenkaufkraft.

Auch wolle man sich in den nächsten Wochen und Monate darum bemühen, bei den privatisierten ehemaligen Staatsbetrieben die Entscheidungsmehrheit zu erzielen, sich also auf 51 Prozent einzukaufen, oder zumindest eine politische Entscheidung dahingehend zu treffen. Weiters gibt es ein konkretes Programm zur Alphabetisierung, bei dem Kuba mithelfen wird und Venezuela mithelfen soll.

derStandard.at: Sind weitere Kooperationen innerhalb Lateinamerikas in Aussicht?

Lessmann: Mit Venezuela wurden schon konkrete Abkommen unterzeichnet, darunter zum Beispiel der Export von Soja und Import von Diesel. Überraschenderweise muss Bolivien als Erdölproduzent Diesel importieren, weil es nicht über entsprechende Raffineriekapazitäten verfügt. Brasilien hat sich seinerseits bereit erklärt, Textilien abzunehmen.

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Evo Morales mit seinem venezolanischen Amtskollegen Hugo Chavez: Ausweitung der Handelsbeziehungen vereinbart

derStandard.at: Und wie sind die Signale aus Washington?

Lessmann: Sehr geteilt. So hieß es einerseits seitens des Lateinamerikabeauftragten des US-Außenministeriums, Thomas A. Shannon Jr., dass man Bolivien weiterhin unterstützen werde: Das Land könne nicht aus eigenen Ressourcen die aufwändige Drogenbekämpfung finanzieren, deshalb sei eine weitere Zusammenarbeit nötig. Auf der anderen Seite ist die Militärhilfe der USA von 1,7 Millionen auf 70.000 US$ gekürzt worden.

Boliviens signalisiert seinerseits, dass Beamte der US-Drogen-Bundespolizei DEA im Trópico de Cochabamba bis auf weiteres im Land bleiben dürfen, obwohl die Sindicatos der Kokabauern schon jahrelang deren Abzug fordern.

>>>>> Teil 3: Koka und Kokain: Traditionelle Heilpflanze auf der Drogenliste der UNO

derStandard.at: Die neue Regierung hat eine Initiative zur Legalisierung des Exports von Kokablättern angekündigt. Welche Chancen hat dieser Ansatz, zwischen traditioneller Heilpflanze und Droge zu differenzieren?

Robert Lessmann: Da macht man eine Büchse der Pandora auf. Das Koka-Blatt steht zusammen mit Substanzen wie Heroin und Kokain auf der Liste Nummer eins der kontrollierten Substanzen der UN-Drogenkonvention von 1961. Viele sind der Meinung, dass es dort zu unrecht steht, zumal es eine Studie der WHO aus dem Jahr 1995 gibt, die dem Kokablatt weitgehende Unbedenklichkeit bescheinigt.

Es gäbe also Argumente dafür, auf internationaler Ebene anzusetzen, um das Koka-Blatt aus seinem Hausarrest in Bolivien und Peru zu befreien und so einen Export auch in andere Länder zu ermöglichen. China soll sich für den Import von Koka-Tee interessiert gezeigt haben.

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Der Export bolivianischer Koka-Produkte scheitert bisher an der UN-Drogenkonvention

Die internationalen Konventionen sehen nur Mechanismen vor, um Substanzen zu verbieten. Unklar bleibt aber, was man tun muss, um eine Substanz wieder von der Liste nehmen, und die Chancen, dafür eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten zu finden, stehen schlecht.

Es gäbe aber auch einen anderen Weg: Im Rahmen der Konvention gibt es "kontrollierte Substanzen", die unter Aufsicht gehandelt werden – zum Beispiel Opiate zur Schmerzbekämpfung. Dieser legale Handel läuft unter Aufsicht des International Narcotics Control Board der UNO ab.

Ein Monopolunternehmer importiert ja auch Kokablätter in die USA. Dort werden die Alkaloide chemisch entfernt und dann die Blätter an die Coca Cola Company weiterverkauft, die daraus einen Aromasirup herstellt. Solche Handelsschienen unter behördlicher Aufsicht sind durchaus möglich, legitim und gebräuchlich.

Gegner würden in beträchtlichen Erklärungsnotstand geraten, wenn sie erläutern sollten, warum Export von Koka-Teebeuteln nach China oder Südafrika unter Aufsicht der UN-Behörden nicht genehmigt werden sollte, wenn doch der Export in die USA möglich ist.