Orhan Pamuk:
"Der Blick aus meinem Fenster.
Betrachtungen". Aus dem Türkischen von Cornelius
Bischoff, Ingrid Iren, Gerhard Meier, Christoph K.
Neumann und Wolfgang Riemann. € 22,10/264 Seiten.
Hanser, München 2006

Buchcover: Hanser
Dieser Befund sprengt alle Klischees. Weit vor der Erfindung des Döner-Sandwichs hatte man in der Türkei die Liebe für den Hotdog entdeckt. Es muss in den 60er-Jahren gewesen sein, als das Fastfood à l'américain in den Straßen Istanbuls eine auffallende Blütezeit erlebte. Wer in diesen Jahren am Bosporus westlich, modern und zivilisiert sein wollte, der trug Bluejeans, begehrte Liz Taylor und aß amerikanische Schnellgerichte. Wo in der traditionellen muslimischen Gesellschaft das Essen noch eng mit Begriffen wie Mutter und Familie verknüpft war, da kam mit einem Mal der öffentliche Verzehr einer Wurst in zwei pappigen Semmelhälften einer Kulturrevolution gleich.

Linke wie Kemalisten waren bereit, um der Neuheit willen alles in den Mund zu stopfen, was nach Urbanität und Moderne roch. Inmitten dieser Fortschrittsgläubigen befand sich auch der damals noch junge Orhan Pamuk. Für den heute bedeutendsten Schriftsteller der Türkei ging Westbindung in seiner Jugend auf direktem Wege durch den Magen. Und das, obwohl seine Mutter ihn immer wieder den Ami-Snack mit Horrorgeschichten über verwendetes Hunde- oder Katzenfleisch madig zu machen versuchte. Der junge Autor stopfte Würste oder Hamburger in sich hinein, als ginge es dabei um ein Bekenntnis.

In seinem gerade erschienenen Essay-Band Der Blick aus meinem Fenster lässt Pamuk diese Tage in einem längst entschwundenen Istanbul noch einmal auferstehen: die kleinen amerikanischen Schnellrestaurants, die plüschigen Kinosäle, die längst gerupften Altstadtviertel nebst ihren kleinen Barbierläden und Bolzplätzen. Damals wusste der Schriftsteller vom Kitzel des Westens zu schwärmen, lange bevor dieser überhaupt den Bosporus überquert hatte. Progressive wie der 1952 in ein bürgerliches Umfeld hineingeborene Pamuk sogen ihre Zukunft aus Hollywoodfilmen auf. Hier sahen sie erstmals Transistorradios und Toaster - all die kleinen Dinge, die es in der Türkei zwar noch nicht gab, von denen die Optimisten aber glaubten, dass sie nur "noch nicht gekommen seien".

In gut dreißig Betrachtungen über Literatur, Europa und Identitäten beschreibt Pamuk eine Metropole im Wartezustand. Seit den Tagen der ersten Amerikanisierungswelle mag das Pendel des Fortschritts in der Türkei immer wieder vor-und zurückgeschlagen haben, "gekommen" aber sind die großen Versprechungen noch immer nicht recht. Verlassen, so streicht Pamuk an einer Stelle des Buches mit Nachdruck heraus, kann er die Stadt dennoch nicht.

Istanbul, das ist für den Sohn eines Bauingenieurs, der anfangs von einer Karriere als Architekt geträumt, dann aber das Reißbrett gegen die Schreibmaschine getauscht hatte, nicht nur Heimat. Istanbul ist Weltmodell. Toter Winkel Europas und zugleich Nahtstelle der Welten: "Nur Autoren, die im Zentrum schreiben, als sei es die Provinz, oder in der Provinz schreiben, als sei es das Zentrum, können uns von den erstickenden nationalen Forderungen bewahren und von den internationalen Rollenklischees befreien." Dieser Satz in einem kleinen Essay über literarische Vorbilder ist eigentlich Faulkner und Dostojewski zugedacht. Geschickt umreißt Pamuk damit aber auch das Wesen seines eigenen Schreibens. Diese Zerrissenheit und Verdoppelung, die Existenz zwischen Orient und Okzident spricht aus fast allen Texten dieses Buches. Am deutlichsten wird sie in einer kleinen Anekdote namens "Fall" oder "Eroberung". In ihr schildert Pamuk die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Ereignisse des Jahres 1453: den Fall Konstantinopels - oder die Eroberung Istanbuls. Schon das Vokabular umreißt Zugehörigkeiten. Das Datum, an dem Muhammad II. die Stadt am Goldenen Horn für das islamische Morgenland gewinnen konnte, kann aus zwei Perspektiven und unter Verwendung zweierlei Wortschätze beschrieben werden. Pamuk entscheidet sich daher für einen dritten Zugang: In diesem beschreibt er das Schicksal von Orhan Beg, einem Onkel des Eroberers, der fürchtete, von seiner Verwandtschaft vergiftet zu werden. Auf der Flucht sucht er in der christlichen Stadt Asyl. Obwohl Beg Türke und Muslim ist, kämpft er gegen das Heer Muhammads. Als die Stadt schließlich nicht mehr gehalten werden kann, stürzt er sich von ihren Zinnen. Für Orhan Beg, der für sich weder im Osten noch im Westen eine Zukunft sehen wollte, war das Eindringen der Osmanen tatsächlich ein "Fall". Wenn auch ein ausschließlich privater.

Pamuk unterstreicht mit dieser Geschichte sein eigentliches Talent: Gegen die immer tiefer klaffenden religiösen Gräben, gegen das anschwellende Krakeelen selbst ernannter Kulturkämpfer fordert der Weltliteraturbürger die Wiederentdeckung des Subjekts und die erneute Einsetzung des Menschen in sein Menschenrecht. Ein Leben in Istanbul ist ein Leben an der Grenze. Wie in den großen Romanen Pamuks gibt es auch in Der Blick aus meinem Fenster kein Entweder-oder, keine eindeutige Gruppenzugehörigkeit, kein "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns": "Jeder lebt mit seinen eigenen Identitätsproblemen, seinen eigenen Wünschen und seiner eigenen Verbitterung."

So ist das Buch mit seinen vielfältigen Mementos und Erzählungen eine Liebeserklärung an eine besondere Stadt. Mitten auf zwei Erdplatten gelegen und immer in der Gefahr, einem Beben zum Opfer zu fallen, kann sie so etwas wie globale Heimat sein: "Und wenn ich mich zu weit entferne, mich etwa vom Glanz New Yorks oder ähnlicher Städte zu sehr blenden lasse, dann fürchte ich, dass tief in mir drinnen sich etwas abnützt und ich mich zu weit von zu Hause entfernt habe." (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 11./12.03.2006)