"In der Wahlmöglichkeit liegt das Leiden. Das Problem ist, dass jeder den Weg, den er hat, mit irgendwelchen Abweichungen geht. Ich sage Ihnen, kein einziges philosophisches Buch hat mir leben geholfen": Vladimir Sorokin.

Foto: STANDARD/Eduard Steiner

Vladimir Sorokin, "Bro".
Aus dem Russischen von
Andreas Tretner. € 22,70/ 256 Seiten. Berlin Verlag, Berlin 2006

Buchcover: Berlin Verlag
Vladimir Sorokin hat ein bedeutsames Jahr hinter sich. Zum 50. Geburtstag kommt das Jubiläum von 25 Jahren schriftstellerischer Karriere, die ihn aus der sowjetischen Verfemung zum internationalen Star der russischen Literatur gemacht hat. Gekrönt hat er das Jubiläumsjahr mit dem Abschluss seiner berühmten "Eistrilogie" ( Das Eis , Bro und 23.000 ). Mit Eduard Steiner sprach Sorokin über seine persönliche und literarische Entwicklung.



STANDARD: Sie hatten zuletzt einige Jubiläen zu feiern. Hat Sie irgendeine Datumszahl besonders beeindruckt?

Sorokin: Mit dem Kopf verstehe ich das Alter. Aber der Junge in mir ist noch nicht gestorben. Ich verstehe, dass ich irgendeine Linie überschritten habe. Und zum Glück ist mehr als die Hälfte des Lebens gelebt. Denn obwohl ich ein wenig georgisches Blut für ein hohes Alter in mir habe, will ich ja doch nicht hundert werden. Wie heißt es bei Lenin: Besser weniger, aber besser.

Literaturkritiker sprechen bei Ihnen ja von noch einem zweiten Geburtstag, und zwar, dass Sie sich vom verneinenden Dekonstruktivismus ab-und dem konstruktiven Zugang zugewendet haben. Sehen Sie die Trilogie als Wendepunkt?


Sorokin: Wahrscheinlich war sie einer. Das Eis und der vorherige Roman Der himmelblaue Speck sind in der Tat sehr unterschiedliche Texte. Auf der Suche nach immer Neuem bewege ich mich dorthin, wo eine lebendige Nahrung, Fleisch gewissermaßen, ist. Nun ja, früher war die Periode der Zertrümmerung von Idolen, ich habe gewissermaßen mit dem Hammer gearbeitet. Jetzt versuche ich, aus diesen Splittern etwas zu bauen. Aber keine Idole, sondern irgendwelche Wohnhäuser, in denen man leben kann, Wohnraum. Das sind unterschiedliche Prozesse. Aber die vorherige Periode war dafür nötig, um den Platz zu säubern - wohlgemerkt nicht nur für mich selbst. Wie ein Bulldozer habe ich einen gewissen Platz gesäubert im Wald der Idole der russischen und sowjetischen Literatur.

STANDARD: Der jetzt wieder zuwächst?

Sorokin: Nun, insgesamt herrschen im Staat Einfrierungstendenzen, und ich denke, dass der Winter auf lange Zeit hin angebrochen ist - zumindest nach europäischen Maßstäben, vielleicht nicht nach russischen, denn was sind schon zehn Jahre für Russland? Bei mir ruft das eine Flut schöpferischer Energie hervor. Das ist immer so: Etwas weniger Freiheit außen, dann suchen wir sie eben innen und finden sie auch. Ich kann sagen, dass ich frei bin, denn einstweilen stört mich noch niemand am Schreiben und an der Veröffentlichung. Aber Russland bleibt unvorhersehbar, sodass sich die 30er-Jahre in irgendeiner Form auch wiederholen können. Ein paar Jahrzehnte Demokratie in den vergangenen 600 Jahren - dass sind Tropfen auf den heißen Stein. Die genetische Erinnerung sitzt tief, und die Leute erinnern sich leicht daran.

STANDARD: Im Land ist Ihr Schaffen bekanntlich verhasst, und man hat Sie vor gut drei Jahren sehr wohl gestört, als Ihnen die Kreml-nahe Jugendorganisation "Gemeinsam Gehende" Pornografie anlasten wollte.

Sorokin: Das beweist, dass die kurze Periode der Pseudodemokratie zu Ende ist. Aber es gibt Perspektiven, denn wir haben den Prozess gewonnen. Überhaupt hat man rein formal auf meine unzensurierte Sprache reagiert, die für mich wohlgemerkt ja kein Selbstzweck ist. Die ganze Aktion war wohl ideologisch motiviert. Wenn sie nämlich gegen die Pornografie kämpfen wollten, hätten sie statt meiner Bücher die Fülle an pornografischen Videokassetten auf dem Markt in die aufgestellte Klomuschel werfen müssen.

STANDARD: Während Sie im Westen weit gehend beliebt sind, stoßen sich die russischen Leser vielfach nicht nur an Ihrer unzensurierten Sprache, sondern auch an den breit geschilderten physiologischen und mitunter Ekel erregenden Details und den brutalen Schilderungen.

Sorokin: Ja, die Wahrnehmung unterscheidet sich manchmal. Im Übrigen schreibe ich selbst auch sehr unterschiedlich: Während in meinem Herzen der Vier Blut und Sperma fließen, wird im Roman Roman überhaupt nur auf die Wange geküsst. Und in BRO legt sich ein Paar ins Bett und berührt sich gar nicht mehr. Was die Gewaltschilderungen anlangt, so ist die Frage wohl eher, woher die Gewalt in Beslan, im Irak, im 20. und 21. Jahrhundert überhaupt kommt. Es ist eines der größten Rätsel für mich, ob die Gewalt im Menschen angelegt ist oder ob er ohne sie auskommen kann. Meinen Ekel erregt der allgegenwärtige Wunsch, einen anderen Menschen zu erniedrigen und ihn - übrigens auch ganz einfach in Gesprächen - seinem eigenen Willen zu unterwerfen.

STANDARD: Warum klonen Sie so eifrig in Ihren Werken?

Sorokin: Ich bin überzeugt, dass das Klonen von Menschen nicht möglich ist - das ist übrigens der Beweis eines göttlichen Seins. Aber in der Literatur ist das Klonen eine sehr angenehme Sache zur Schaffung eines Spielfeldes. Ich kann ja nicht nur Menschen, sondern etwa auch die Zeit oder die Geschichte klonen. Oder Tolstoj in der Literatur werden.

STANDARD: Michel Houellebecq, mit dem Sie gut bekannt sind, hat den Islam einmal die dümmste Religion überhaupt genannt. Was meinen Sie dazu?

Sorokin: Ich habe auf meiner Datscha zwei Tadschiken als Bauarbeiter engagiert. Sie sind sehr religiös, sehr ehrlich, arbeitsam und nicht aggressiv. Ich sprach mit ihnen über die Terroranschläge usw., und ich sah, wie sie das alles hassen, weil es ihres Erachtens dem Islam schadet. Houellebecq redet hier Unsinn. Als Zyniker wollte er wohl provozieren. Ich aber kann gerade Zynismus nicht ertragen. Mir scheint überhaupt, dass die Menschen weder Ostrazismus noch Ironie oder Zynismus, sondern Mitgefühl brauchen. Es gibt keine schlechte Religion, es gibt schlechte Menschen. Und das Leben ist eine Prüfung.

STANDARD: Wofür?

Sorokin: Das ist das Rätsel des Daseins. Ein großes Geheimnis. Etwa, dass wir uns in der Zeit befinden und auswählen können, was wir tun. Im Unterschied zu den Tieren sind wir durch eigenes Verschulden aus dem Paradies vertrieben worden. Dadurch haben wir die Wahl - selbst darüber, ob wir Selbstmord begehen oder nicht. In der Wahlmöglichkeit liegt das Leiden. Das Problem ist, dass jeder den Weg, den er hat, mit irgendwelchen Abweichungen geht. Ich sage Ihnen, kein einziges philosophisches Buch hat mir leben geholfen. Ich habe immer versucht, in mich selbst hineinzuhören. Und wie man leben soll, das alles findet sich in Jesu Bergpredigt.

STANDARD: Als Metaphysiker und Neoplatoniker, wie Sie sich bezeichnen: Wie sehen Sie den im Westen zuletzt wieder aufgeflammten Streit zwischen Naturwissenschaft und Religion besonders hinsichtlich der Evolutionstheorie?

Sorokin: Ich habe nie an Darwin geglaubt. Und ich glaube nicht an den Zufall. Die Schaffung des Menschen ist ein tief durchdachter Akt, ein gewisses kosmisches Projekt. Die Erkenntnismöglichkeiten der Wissenschaft sind zweifellos beschränkt. Die Wissenschaft bewertet die Rolle des Gehirns zu hoch und lässt Herz und Intuition außer Acht. Besonders die sowjetische Generation unserer Eltern - sie sind alle dumme Atheisten. Sie denken, sie wären zufällig aus Teilen zusammengesetzt.

>>>Der Roman "Bro" - Eine Rezension

Der Roman "Bro"

30. Juni 1908. Die sibirische Taiga wird von einer gewaltigen Explosion erschüttert, die hunderte von Quadratkilometer Wald zu Boden drückt. Meteoriteneinschlag? Unterirdischer Vulkanausbruch? Die Ursachen dafür beschäftigen Wissenschafter und Esoteriker bis heute. Am Tag dieses seltsamen Ereignisses wird der titelgebende Held und Icherzähler des neuen Sorokin-Romans Bro geboren. Durch einen Zufall wird Bro, den die bolschewistische Revolution aller Wurzeln und Illusionen beraubte, zwanzig Jahre später Mitglied einer Expedition, die sich auf die Suche nach dem Meteoriten macht.

Nach seiner Rückkehr ist Bro nicht mehr derselbe, denn ihm ist es gelungen, jenes Eisstück, "das Ljod", das in Sorokins letztem Roman - dem ersten der berühmten "Eistrilogie" - die entscheidende Rolle spielt, zu finden. Alles dreht sich um eine sektenartige Gruppierung von 23.000 Menschen, die ein "Ursprüngliches Licht" in sich tragen. Erst wenn sie einander finden, wird es ihnen, so der Mythos, gelingen, die ursprüngliche Harmonie auf Erden wieder herzustellen. Die Auserwählten müssen übrigens blond und blauäugig sein und sich einem grausigen Ritual unterziehen. Ein Hammer mit einem Kopf aus Eis wird ihnen mit großer Wucht auf den nackten Brustkorb geschlagen, falls ihr derart malträtiertes Herz zu "sprechen" beginnt, gehören sie zu den Trägern des "Ursprünglichen Lichts"- und sind somit Mitglieder einer Elite von Hoffnungsträgern, der die große Masse von todgeweihten "Fleischmaschinen" gegenübersteht.

Sorokin fügt der kommunistischen Utopie und der nationalsozialistischen Rassenideologie (die im Buch eine Rolle spielt) eine dritte Heilsbotschaft, deren Ziel das universale Licht ist, bei. Verwoben in die - meist abenteuerlichen -
Geschichten nach den Auserwählten
erzählt Sorokin eine episodenhafte Geschichte der UdSSR. Die Revolutionszeit und der Bürgerkrieg, die Stalin-Herrschaft und der Zweite Weltkrieg werden zu Kulissen, in denen sich die Handlung des Romans bewegt. Es geht ihm weniger darum, ironisch mit der Geschichte abzurechnen, vielmehr zeigt Sorokin jenen Schmerz, den das Vergehen von Utopien oder des Spirituellen und enttäuschte Heilserwartungen dem Mensch bereitet. (steg/ALBUM, DER STANDARD, Printausgabe, 11./12.03.2006)