STANDARD: Der öffentliche Dienst geht in die fünfte Streikwoche, und es gibt kaum Bewegung bei den Verhandlungen. Steckt Verdi in der Sackgasse?

Müller: Verdi hat sich verrannt. Die Gewerkschaft will mit diesem Arbeitskampf zwei nicht kompatible Ziele erreichen. Auf Kommunalebene wehrt sie sich gegen eine Anhebung der Arbeitszeiten von 38,5 auf 40 Wochenstunden. Aber von den Ländern will sie einen Tarifvertrag erzwingen, der genau das ermöglicht. Das geht nicht zusammen.

STANDARD: Die IG-Metall droht bei ihren aktuellen Tarifverhandlungen auch mit Streik. Sind die Gewerkschaften in Deutschland wieder selbstbewusster als unter der rot-grünen Bundesregierung?

Müller: Die deutschen Gewerkschaften wollen ein Stück Macht zurück. Unter Gerhard Schröder waren sie schwächer als heute, weil er seine Politik regelrecht an ihnen vorbeigeführt hat, man erinnere sich an die Agenda 2010. Es ist kein Zufall, dass zwei Großgewerkschaften jetzt nach dem Regierungswechsel so auftreten. Wenn sie diese Chance nicht nützen, haben sie keine mehr.

STANDARD: Sichert dieser Streik Verdi-Chef Frank Bsirske die Wiederwahl 2007?

Müller: Das spielt natürlich eine Rolle. Innerhalb der Gewerkschaft knirscht es. Verdi ist nicht homogen und hat seit der Gründung ein Sechstel seiner Mitglieder - rund 560.000 - verloren, weil der Gewerkschaftsapparat noch überwiegend mit sich selbst beschäftigt ist. Jetzt liegt Verdi gemessen an den Mitgliederzahlen innerhalb des deutschen Gewerkschaftsbunds hinter der IG-Metall. Dieser Verdi-Streik soll auch mobilisieren und motivieren.

STANDARD: Wie lange reicht die Streikkasse bei Verdi noch?

Müller: Noch lange, es streiken ja immer nur maximal 30.000 Bedienstete. Das ist nicht viel, verglichen mit dem Jahr 1992, als 300.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst die Arbeit ruhen ließen. Allerdings beginnt sich nun die Stimmung der Bevölkerung zu drehen. Bis jetzt wurde der Streik noch hingenommen, aber allmählich reicht es den Menschen.

STANDARD: Viele Menschen verstehen nicht, warum sich Verdi angesichts fünf Millionen Arbeitslosen gegen 18 Minuten Mehrarbeit täglich wehrt.

Müller: Diese Zahl haben die Arbeitgeber geschickt platziert. Dafür spricht Verdi immer von 250.000 gefährdeten Arbeitsplätzen. Beiden Seiten geht es dabei mehr um die Hoheit über die Stammtische als um Fakten. Die aber sind: Das Gros der öffentlich Bediensteten hat weiterhin beamtenähnlichen Kündigungsschutz. Und die Verdienste sind bis zu 20 Prozent höher als in der Privatwirtschaft.

STANDARD: Kann der öffentliche Dienst im Osten diesen Streik gutheißen? Dort gilt die 40-Stunden-Woche ja schon.

Müller: Das Schweigen in Ostdeutschland ist innergewerkschaftliche Solidarität: Man hält den Mund, denkt sich aber: Geschieht euch im Westen ganz recht.