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Guantánamo, für Roger Willemsen nicht zuletzt ein "symbolischer Ort": "Da sitzen die so genannten Gefährlichen, und sobald ihre Wärter Motivationsprobleme kriegen, wird ihnen immer wieder 9/11 als Endlosschleife vorgeführt ..."

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"Hier spricht Guantánamo" - unter diesem Titel hat der deutsche Dokumentarist und Autor Roger Willemsen Interviews mit Exhäftlingen versammelt, die dramatische Einblicke in die Mechanismen der US-Vergeltungsstrategien nach 9/11 geben. Claus Philipp sprach mit ihm.

STANDARD: Ihr Buch beginnt so: "Über Guantánamo ist alles gesagt. Bis auf das, was die Häftlinge zu sagen hätten."

Roger Willemsen: Ja, ich habe mich gewundert, dass in England mehrmals Interviews mit ehemaligen Häftlingen publiziert worden sind und dass man sich in Deutschland da sehr zurückgehalten hat. Man schrieb zwar liberale Artikel, die diffus das Humane reklamierten, aber es war weitestgehend folgenlos, auch weil man keine Stimmen von innen hatte. Da dachte ich, ich könnte ja das Interviewen, das ich so lange als Handwerk geübt habe, auch mal einem sinnvollen Zweck zuführen.

STANDARD: Sie haben in unzähligen Fernsehsendungen, Dokumentarfilmen etc. das immer wieder erprobt, Menschen, meist Intellektuellen und Prominenten, Fragen zu stellen. Was war nun hier der heikelste Moment?

Willemsen: Der Akzent hat sich völlig verschoben. Ich wusste über meine Gegenüber manchmal sehr wenig, also musste ich umso besser beobachten und überlegen. Vor allem: An welchen Stellen berühre ich Fragen, die vermutlich schon in den Verhören der Amerikaner wiederholt gestellt wurden, also vielleicht auf heftige Ablehnung und Misstrauen stoßen?

STANDARD: Fünf Häftlinge haben Sie in Russland und Afghanistan über Vermittlung von Amnesty International getroffen. Haben Sie bewusst offen gelassen, ob wirklich alles stimmt, was die erzählen? Und warum haben Sie es bei der unkommentierten Wiedergabe der Gespräche belassen?

Willemsen: Ich sehe überhaupt keinen Grund, an der Wahrhaftigkeit der Zeugen zu zweifeln, die von den Amerikanern selber als unschuldig erklärt wurden. Es ist ja auch auffällig, wie ungeheuer beherrscht die reden. Da gibt es ja keinen keifenden Ton, kaum eine manifeste Anklage, keine Polemik darin, im Gegenteil. Wir haben, so weit das möglich war, natürlich nachrecherchiert und keine einzige Unwahrheit gefunden.

STANDARD: Man könnte ja sagen: Selbst wenn manches von den teilweise recht drastischen Beschreibungen von Verhören und Zermürbungstaktiken erfunden ist, so erzählt es immer noch von drastischen Gewaltfantasien, die auf diesem Erdball wuchern. War das für Sie ein intendierter "Effekt"?

Willemsen: Ich kann dieser Lesart zumindest einiges abgewinnen. Ein weiterer Grund für meine Zurückhaltung: Die Gefahr war groß, dass alles Interpretationsmasse des Autors und Reisenden Willemsen geworden wäre. Ich habe aus den gesamten Gesprächen zwei Seiten herausgekürzt, sonst ist alles identisch so geblieben, bis in die Banalitäten oder Suggestionen hinein.

STANDARD: Die Dialoge gewinnen eine kühle Wucht, als würde jemand de Sades "120 Tage von Sodom" modernisieren. Hat sich für Sie selbst, während Sie die Interviews führten, Guantánamo zum theatralischen Setting ausgewachsen?

Willemsen: Guantánamo ist bis heute für die Öffentlichkeit im Prinzip ein bilderloser Ort, von dem wir gezoomte Aufnahmen aus 500 Meter Entfernung kennen, dessen Innenleben wir uns zum Teil wie eine amerikanische Kleinstadt vorstellen müssen, in dem alle Grundfunktionen vom Supermarkt bis zur Unterhaltung notdürftig abgedeckt werden. Gleichzeitig ist das ein Raum, den alle, mit denen ich gesprochen habe, nur partiell gesehen haben. Dadurch entstehen auch widersprüchliche Beschreibungen.

Insgesamt habe ich Guantánamo immer eher als symbolischen Ort verstanden - also wir können zum Beispiel dorthin zeigen und sagen, da sitzen die so genannten Gefährlichen, und sobald ihre Wärter Motivationsprobleme kriegen, wird ihnen immer wieder 9/11 als Endlosschleife vorgeführt.

STANDARD: Eine dämonische Erzählung: Käfige, in denen Menschen ausharren, zum Teil mit permanent zum Boden gewandtem Blick, umgeben von Soldaten, die sich ihrerseits aufputschen mit Bildern vergangener Untaten, die ihrer Nation zugefügt wurden. Dabei kann das Bild eines entwürdigten Häftlings das Bild der beiden Türme, die einstürzen, nicht egalisieren.

Willemsen: Nein, diese beiden Bilder gehören unmittelbar zusammen, vor allem sprechen sie von dem riesigen Hohlraum, der zwischen ihnen entstanden ist. Es ist quasi der Versuch, durch ein Bild das andere zu therapieren. Das missglückt. Bush und Rumsfeld wissen das, und sie wissen auch, dass sie eigentlich einen bilderlosen Raum schaffen müssen, damit man sich das Inferno Guantánamo drastischer vorstellt, als es vielleicht existiert.

STANDARD: Damit der Eindruck entsteht, hier werde gesühnt?

Willemsen: Ganz recht, und die Vollstreckung dieser Sühne darf an kein Ende kommen. Es muss ein Perpetuum mobile sein, in dem unablässig Gerechtigkeit ausgeübt wird. Unablässig werden Häftlinge mit ihrer eigenen Auslöschung bedroht: Wenn ihr nicht gehorcht, werden wir dafür sorgen, dass hier keiner geistig intakt herauskommt. Das sind im Grunde genommen uralte Blutopfer, die da gebracht werden, die Erde öffnet sich und es entsteht ein Spalt und man wirft ein Opfer oder eine Jungfrau oder einen Muslimen hinein, damit sich der Spalt wieder schließt.

STANDARD: In dem Interview heißt es wiederholt: Das Einzige, was die Häftlinge im Lager aufrechterhalten habe, war ihr Glaube und der Koran. Haben Sie je einmal versucht nachzufragen, was das ist, was einen Muslim im Speziellen antreibt?

Willemsen: Ich sehe da eine kulturspezifische Differenz, die wir natürlich auch an Stellen erleben, wo sich in Guantánamo 28 Personen an einem Tag das Leben nehmen wollen, weil man den Koran ins Klo geworfen hat. Das wird für die Bibel wohl kaum jemand tun. Der Koran ist für diese Menschen etwas so Fragloses, dass man, wenn man nachfragt, meist nur auf Tautologien kommt: Ich glaube, weil ich glaube. Der Glaube gibt mir Kraft, weil er mir Kraft gibt. Man stößt hier mit westlich motivierten Fragen schnell an die Grenzen und kommt da in eine Endlosschleife der Bestätigung von Glaubenssätzen, und genau deshalb ist gegenwärtig Integration oder die Anerkennung fremder Kulturen derart schwierig, weil sie nicht mehr allein durch Toleranz zu lösen ist. Wir haben das einfach zu akzeptieren.

STANDARD: Eine Szene, die ich sehr beeindruckend fand: Jedes Mal, wenn Sie die Leute fragen, wo sie waren, als 9/11 passiert ist - da spürt man eine gewaltige Entfernung, die ja in vielen Weltgegenden immer noch dazu führt, dass Menschen gar nicht wissen, was das ist: 9/11. Wo waren Sie damals?

Willemsen: Ich war in der allerabsurdesten Situation. Ich hatte mich entschlossen, dem Fernsehen Adieu zu sagen, und intern bei mir so gedacht, jetzt machst du noch mal eine Rundreise durch die Fernsehshows, und war bei dieser Gelegenheit bei Harald Schmidt und Anke Engelke usw. Und ich war an diesem Tag auf dem Sprung, in eine neue Sendung von Jürgen von der Lippe zu gehen, die Blind Date oder so hieß und wo man sich insgesamt zu dritt treffen sollte, um an einem Tisch miteinander zu essen. Daraus sollte dann eine Dreiviertelstunden-Sendung gemacht werden.

Ich bin in Berlin ins Hotel gegangen, habe den Fernseher angemacht, sah diese Bilder und bin ins Foyer gelaufen, ich habe den Leuten gesagt: Machen Sie mal den Fernseher an. Dann verfolgte man diese Bilder, und später erzählte ich das der Taxifahrerin auf dem Weg zum Studio. Ich bin eigentlich ins Studio, um zu sagen, ich werde an dieser Produktion nicht teilnehmen. Die Taxifahrerin parkte den Wagen an der rechten Seite und fing an zu weinen und fuhr mich dann zu dem Gelände, und dort wurde besprochen, was geschehen sollte.

Plötzlich war es irgendwie die allgemeine Maxime, man sei doch Profi, und diese Sache müsse produziert werden. Es war eine entsetzliche Situation. Alle unter Schock, wie auf Autopilot. Das führte dazu, dass die Sendung dann zwar aufgezeichnet wurde, wir sie aber derartig lustlos und derart unfähig gemacht haben, dass sie nie ausgestrahlt worden ist.

--> Seite 2: Zur Person Roger Willemsen Musil-Leser, TV-Star und Dokumentarist Roger Willemsen

1955 in Bonn geboren, studierter Germanist (samt Dissertation über die Dichtungstheorie von Robert Musil) und vor allem in den 90er-Jahren gefeierter TV-Talk-Moderator (Willemsens Woche) - er scheint sich zunehmend zu einer besonders unberechenbaren Größe der deutschsprachigen Medien- und Kulturszene zu entwickeln:

Nachdem er zuletzt Dokumentarfilme (etwa für Arte) produzierte, selbst Prosa quer durch die unterschiedlichsten Genres schrieb (Deutschlandreise, Kleine Lichter) und gleichzeitig als Herausgeber einer Edition der Tagebücher von Samuel Pepys reüssierte, legt er nun parallel in zwei Verlagen gleich zwei politisch und zeithistorisch brisante Bücher vor: Bei S. Fischer erschien kürzlich Willemsens Afghanische Reise, ein Bericht über einen Trip durch das verwüstete Land, in dessen Rahmen teilweise auch jene Interviews entstanden, die Willemsen bei Zweitausendeins unter dem Titel Hier spricht Guantánamo publizierte: Gespräche mit fünf ehemaligen Häftlingen - einem Jordanier, einem Palästinenser, zwei Russen, einem Afghanen -, die unpolemisch, aber dabei umso erschütternder von ihrer Zeit in dem umstrittenen US-Gefangenlager auf Kuba berichten. "Ich wäre glücklich gewesen und hätte es begrüßt, wenn sie uns hingerichtet hätten", sagt etwa der ehemalige Häftlingssprecher Abdusalam Daeef.

Roger Willemsen im Vorwort zu seinem Buch: "Guantánamo wird immer noch als eine Irritation, nicht als das Skandalon einer Demokratie betrachtet, die sich frei fühlt, selbst zu bestimmen, wer auf ihre Grundrechte keinen Anspruch hat und wer deshalb ohne Prozess verschleppt und entführt, isoliert, physisch und psychisch gefoltert, gebrochen und, seiner vitalen Lebensmöglichkeiten beraubt, zurückgelassen werden darf." (DER STANDARD, Printausgabe vom 6.3.2006)