Bert Brechts Frühwerk "Im Dickicht der Städte" wird da zerstückelt und zu kleinen Haufen zusammengeschaufelt. Dazwischen letzte Zuckungen eines Theaters, das nicht recht weiß, wie es weitergeht.

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Leseratten finden sich im urbanen Dschungel selten gut zurecht. Sie halten das, was draußen vor der Tür vorgeht, eher für eine Zumutung. Wer es also im Dickicht der Städte zu etwas bringen will, muss das Buch überwinden und das Bett verlassen. Hinter der Tür, die Bert Neumann für Frank Castorfs neue Inszenierung in die Berliner Volksbühne gestellt hat, wartet ein Drache - die moderne Stadt mit ihrem betäubenden Lärm. Chicago, Schanghai, Kuala Lumpur - einerlei Moloch.

Drinnen sitzen George Garga (Milan Peschel) und der Holzhändler Shlink (Herbert Fritsch) auf einem Bett. Sie finden das alles sehr interessant, was in den Büchern des Mister Maynes, Besitzer der Leihbibliothek, steht. Aber sie können sich damit nicht aufhalten, denn ihre Sache ist eine andere: Im Dickicht der Städte herrscht allgemeine Konkurrenz. Der erste Buchhalter ist der nächste Kapitalist ist der Pate von übermorgen. Der Raum für den Einzelnen ist so groß wie die Schachteln, die Familie Garga dort trägt, wo beim Menschen der Kopf sitzt. Sie sind verpackt, und wenn man die Kartons wegnimmt, dann legen sich die Männer in Müllsäcke zum Schlafen.

Das große Bett ist das einzige Möbel in Bert Neumanns Bühnenbild, mit dem sich etwas anfangen lässt. Die Tür dient nur zu Auf- und Abtritt, die Polstermöbel nach Mies van der Rohe stehen provokant modern im Weg, die Rückwand ist eine rote Plastikplane. Hinter dieser Szene trägt sich das Stück zu, ein Sprachkunstwerk des vortheoretischen Brecht aus den 20er-Jahren. Auf dem Proszenium werden die Reste dieses Stücks verarbeitet - was die Leseratten vom Text übrig gelassen haben, wird für Castorf zum Material.

Er hält daran fest, dass Sinn sich nur dort einstellt, wo der Körper sich am Kapitalismus reibt. Die wirtschaftliche Totalität ist in diesem Stück noch kaum ausdifferenziert, deswegen rufen die Darsteller an einer Stelle laut: "Tigerstaaten!" Der Holzhändler Shlink ist schließlich ein Malaie, aber es sind nur seine Zigarren, die nach Kapitalismus stinken. Der Rest ist Kontorwirtschaft, doppelte Hauptbuchführung.

Das Stück gibt für die Gegenwart nicht viel her - das ist es, was den Dialektiker Castorf wohl interessiert. Die ohne Pause durchgespielten drei Stunden von Im Dickicht der Städte an der Berliner Volksbühne sind in Wahrheit Trümmerökonomie. Der Text wird aufgelesen und zu kleinen Schauspielerhaufen zusammengeschaufelt. Die Castorf-Stimmung stellt sich momentweise immer noch ein, wenn Steve Binetti im Vordergrund auf seiner elektrischen Gitarre schrammt, Astrid Meyerfeldt in der Tiefe des Bilds eine Geschichte erzählt, und dahinter die orangeroten Neonröhren von Bert Neumann glühen.

Die Vermutung hinter diesen melancholischen Zwischenspielen wäre, dass sich auch in Brechts Expressionismus noch ein paar Dämonen entdecken ließen, nihilistische Tagträumer, die einer bürgerlichen Epoche nachsinnen, mit der sie nichts zu tun haben. Aber Castorf glaubt selbst nicht dran, und so müssen die Frauen das Dickicht der Städte ausbaden.

Jeanette Spassova (Marie Garga) und Irina Kastrinidis (Jane) sind die Prostituierten, in denen die Männerwirtschaft sich spiegelt. Und die dunkelhäutige Rosalind Baffoe (Mae) wird mit Kalauern in das Geblaff integriert: Sie sorgt für den schwarzen Kaffee.

Im Dickicht der Städte spielt in einer Zeit, in der Arbeitgeber und Arbeitnehmer noch als Chef und Narr miteinander zu tun hatten, die Rollen tauschen und gemeinsam in Konkurs gehen konnten. Sie waren in Kontakt, weil es keine Manager gab. Die Stadt war ein Ort der Verdichtung, nicht der Zerstreuung. Im Dickicht der Städte handelt von einem Theater der Ökonomie, von einem Ausbeutungs- und Entfremdungsspiel, in dem man direkt aufeinander losgeht. Die Zeit hat die Arbeit der Zerlegung an diesem Stück schon getan.

Was Frank Castorf daraus macht, ist Beschäftigungstherapie für ein Theater, von dem er im Moment nicht zu wissen scheint, was es soll. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27. 2. 2006)