J. hat nämlich einen Selbstverteidigungskurs besucht. Weil sie, erzählte sie uns beim Abendessen, etwas gegen „dieses Scheißgefühl“ habe tun müssen: Sie habe sich vorher nie und nirgendwo unsicher gefühlt. Aber seit sie (siehe Stadtgeschichte „Der Schrei“, Montag) erlebte, dass alle Nachbarn zu feig waren, auch nur aus dem Fenster zu brüllen, als jemand im Hof eine Frau zu vergewaltigen versuchte, sei das anders gewesen. Ganz anders.
Empfundene Lächerlichkeit
Und das, erklärte J., habe nichts mit Statistiken zu tun. Sie habe manchmal ihren Freund angerufen, wenn sie mit dem Hund am Abend eine Runde gegangen sei: Sie säße in irgendeinem Lokal – und er solle sie abholen. Am schlimmsten, so J. sei dabei das von Gefühl der Lächerlichkeit gewesen. (Ihr Freund ist immer gekommen. Und hat nie auch nur blöd geschaut.)
Darum hat J. dann den Kurs gemacht. Mit einer Freundin. Der Kurs war nur für Frauen. Und auch wenn die Freundin – eine Kampfsportlerin – (eh nur vorher) gematschgert habe, dass ein Wochenendkurs auf Dauer kaum was bringe, betont J., dass ihr das Ding geholfen habe. Gegen ihre eigene Angst. Gegen das Gefühl, von vorneherein Opfer zu sein. Beim Grenzen abstecken. Und praktisch: Schreien, richtig schreien, müsse man nämlich lernen. Hinhauen – also das richtige Hinhau-Hinhauen, dort wo es weh tut und solange es noch geht – auch. Und auch, wie man einen Schlüssel, einen Salzstreuer oder ein Handy tatsächlich als Waffe einsetzen kann.
Dampf ablassen
Der Kurs sei auch lustig gewesen. Wegen dem Hindreschen: So richtig Dampf ablassen – in den Schlagpolster, aber egal– habe sie bisher nie dürfen. Das bisserl Luftboxen bei Tae-Bo im Fitnesscenter, meint J., komme ihr fast komisch vor – vor allem, weil sie gemerkt habe, dass sogar sie (zarte Figur, dünne Ärmchen) ziemlich viel Energie in den Polster pfeffern kann. Am Anfang, erzählte J., sei ihr das Spaßhaben-am-Hinhauen peinlich gewesen. Aber damit umgehen zu lernen gehöre auch dazu.
Manches, erzählte J., sei aber gar nicht lustig gewesen: Am Anfang habe man über Motivationen und Gründe herzukommen geredet. Und J. betont, derartige „Befindlichkeitslaberei“ zu hassen: Sie sei ja hier – warum drüber reden? Bloß: Als „etwa jede vierte Frau in der ziemlich großen Gruppe zumindest andeutete, aus ganz konkretem Anlass“ hier zu sein, habe sie ihre Widerstände aufgegeben.
Michelinmannderattacke
Am Ende des Kurses habe sich der Assistent der Trainerin – der einzige Mann im Kurs, erzählte J., sei bei allem, was nicht-praktisch gewesen sei, raus gegangen – dann in den Michelinmanderl-Sparringanzug gezwängt. Und jede Frau musste, sozusagen „alleine“, den Saal durchqueren. Irgendwann würden sie angesprochen, angegriffen und bedrängt werden – und zwar (abgesehen vom Schutzanzug) „absolut lebensnah.“
Obwohl sie also gewusst hätte, dass da etwas kommen würde, erzählte J., sei sie dann zunächst wie gelähmt gewesen. Und ratlos. Weil der Angreifer ja zuerst nur laberte und nur schrittweise anlassig wurde: Die – auch räumliche - Grenze zu erkennen, meint J., sei fast schwieriger gewesen als dann tatsächlich fest, konsequent und rechtzeitig zuzuschlagen. Für sie sei das eine Befreiung gewesen: Danach sei der Schrei der Frau im Hof zum ersten Mal wirklich weg gewesen.
Videoanalyse