Das Leben - ein fremder Film. In den sich Anatol (Dominik Warta) in Graz versetzt sieht.

Foto: Stadttheater Graz
Graz - Als "Hypochonder der Liebe" beschreibt sich Arthur Schnitzlers Anatol wohl am treffendsten. Im Grazer Schauspielhaus packte Regisseur Marc von Henning die Geschichte eines Mannes, der sich auf der Flucht vor der Einsamkeit eine Welt aus Lügen, Illusionen und Projektionen um verschiedene Liebesbeziehungen baut, in kompakte, poetisch schöne Bilder. Dafür wurden Szenen verschoben und Texte hinzugefügt.

Der Himmel über ihm hängt voller Lampenschirme verschiedenster Facon. Denn bei Lichte besehen gibt es in Anatols Leben viele Wahrheiten: Die Sehnsucht nach der vorsichtigen Gabriele (Frederike von Stechow), die Zuneigung zur naturverliebten Cora (Ninja Reichert), die Leidenschaft, die ihn an die verheiratete Else (Martina Stilp) bindet, die zarte Erinnerung an die Artistin Julia Bartolome oder die Machtspielchen mit der Schauspielerin Annie (Katja Hirsch).

Facetten eines Menschen

Alle sind sie für den Romantiker Anatol, den Dominik Warta im Laufe der Premiere am Freitagabend immer überzeugender als egozentrischen Liebhaber gibt, wahr. Warta agiert dabei manchmal als ängstlicher, manchmal präpotenter Mann, und manchmal wie ein Kleinkind in der Trotzphase brüllend. Facetten eines Menschen, der nur eines nicht schafft: mit sich allein er selbst zu sein.

Marc von Henning arbeitete dabei nicht nur mit einem äußerst stimmungsvollen Bühnenbild von Ralph Zeger, er spielt mit einem Perspektivenwechsel: Durch einen in den Guckkasten gebauten Kinosaal blickt man auf eine Leinwand, hinter deren Vorhängen wiederum das Bellaria Kino mit verlassenen Schaukästen von außen zu sehen ist.

Lichtspiel: Projektion

Dieses Lichtspieltheater ist die Materialisierung von Anatols Spiel mit den Geliebten: Er projiziert die eigene Untreue, Angst und Verlogenheit in Form von Misstrauen und Eifersucht in Reinkultur auf die jeweilige Frau, die für ihn zur Leinwand wird. Die Frauen wiederum begehren gegen diesen Missbrauch - auch mithilfe solider schauspielerischer Leistungen - auf. Es sind durchwegs kräftige Frauenfiguren, die hier aus der Opferrolle in das Licht der "anatolischen" Glühbirnen treten.

Ein reines Vergnügen ist das Zusammenspiel von Warta mit Franz Solar, der aus der Figur des Freundes Max mehr herausschält, als Schnitzler diesem in den Mund gelegt hat: Max wird zur einzigen wirklichen Beziehung, die er ohne Verfremdungen des Gegenübers lebt, die ihm eines Tages auch wahrhaftig fehlt. Die Regie lässt Max dafür am Ende sogar sterben.

Zeiten des Stummfilms

Auch ein paar Musikeinlagen, begleitet vom Pianisten Franz Steiner, der wie in Zeiten des Stummfilms das Geschehen vor der Bühne begleitet, werden von den Damen dargeboten. Wobei vor allem Martina Stilp mit der aus der Loge im ersten Rang gesungenen Tori-Amos-Nummer "Leather" stimmliches Feingefühl beweist.

Ein kleiner Wermutstropfen ergießt sich dann über das Schlussbild nach der Pause. Isoliert steht ein einsamer Anatol in weiter Ferne hinter der Leinwand, reflektiert über sich selbst, kehrt die Zeit um, als ob sich der junge an den alten Anatol erinnern würde. Dieser alte Anatol wird allerdings - verkörpert von Gerhard Balluch - zum verzichtbaren Erklärer des Lebens, der von den Frauen seines Weges noch einmal unpassend schrill heimgesucht wird. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13.2.2006)