Paris – Eigentlich ist Robert Guédiguian mit ganz anderen Arbeiten bekannt geworden: Seit Jahren dreht er in schöner Regelmäßigkeit und meist mit seinen kongenialen Darstellern Ariane Ascaride, Jean-Pierre Darroussin und Gérard Meylan Filme, die mal heiter, mal dramatisch von den "kleinen Leuten" seiner Heimatstadt Marseille und zugleich eher von den Effekten der Politik erzählen.
Der späte Mitterrand / Le promeneur du Champs de Mars hingegen nimmt seinen Ausgang bei Georges-Marc Benamous Veröffentlichungen über den vor zehn Jahren verstorbenen französischen Staatspräsidenten, die bei ihrem Erscheinen Ende der Neunzigerjahre für einiges Aufsehen sorgten: Im Mittelpunkt des Films stehen die Recherchen eines jungen Journalisten (Jalil Lespert), der im Austausch mit dem bereits von Krankheit gezeichneten Mitterrand (Michel Bouquet) Material für eine Biografie zusammenstellt. Trotzdem wirkt Der späte Mitterand weniger wie ein naturalistisches Bio-Pic, weit mehr wie ein Königsdrama, das politische Positionen, Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume verhandelt.
Ein Freund, sagt Guédiguian, habe ihm das Buch von Benamou empfohlen. Er selbst habe dann zunächst Bedingungen gestellt: "Ich wollte das Buch 'theatralisieren', historische Persönlichkeiten, die Anekdoten, die Ehefrau, die Tochter etc. herausnehmen, und nur die philosophischen, politischen, und wenn man so will: poetischen Gespräche über das Leben und den Tod beibehalten. Die zweite Bedingung war, dass ich die Figur des Journalisten umarbeiten durfte. Er sollte viel überzeugter, idealistischer, auch militanter sein, also viel näher an meiner Generation als an der von Benamou. Die dritte war schließlich, dass Michel Bouquet Mitterrand spielen sollte. Ohne ihn hätte ich den Film nicht gemacht."
STANDARD: Waren das auch Wege, die Gefahr eines Bio-Pics à la Hollywood, eines allzu personalisierten Fokus auf Geschichte zu umgehen?
Robert Guédiguian: Man muss zugleich sehr frei und sehr respektvoll mit der Geschichte umgehen. Ich habe sehr stark Stellung genommen, aber das ist kein Widerspruch. Ich bin kein Geschichtsfälscher. Beispielsweise sind 90 Prozent der Sätze von Mitterrand im Film Originaltexte von ihm, die wir neu montiert haben. Wir haben uns also Freiheiten genommen, einen Aspekt weggelassen und dafür einen anderen vertieft. Aber ich glaube auch, dass sich wissenschaftliche und künstlerische Werke darin nicht allzu sehr unterscheiden. Auch ein Historiker nimmt eine bestimmte Perspektive ein, und auch er kann nie alles behandeln.
STANDARD: Haben Sie im Zuge Ihrer Recherchen auch etwas entdeckt, das Sie selbst überrascht, Ihr Bild von Mitterrand irritiert hat?
Guédiguian: Natürlich hat sich mein Verhältnis zu Mitterrand verändert. Es wurde eine Beziehung: Mitterrand und ich und Michel Bouquet. Aber was im Film mehrmals gesagt wird und was mir an der Person sehr gefallen hat, ist dieser kleine Konformismus, dieser ungemein überhebliche Umgang mit der persönlichen Freiheit – dieses Sture: Ich bin frei, ich sage, was ich will, ich liebe, wen ich will. Das habe ich entdeckt, das war mir nicht bewusst, dass er sich seiner selbst so sicher war.
STANDARD: Hat Sie dieses Projekt eigentlich nie eingeschüchtert? Schließlich ist wohl jeder Franzose auch ein "Mitterrand-Experte" ...
Guédiguian: Ja, eigentlich ja – und zugleich habe ich den Film deshalb auch gemacht. Es musste auch ein bisschen "gefährlich" sein – aber gefährlich im cineastischen Sinne. Wenn ich nicht ein bisschen Angst habe, habe ich auch keine Lust, den Film zu drehen. Hier gab es natürlich größere Risiken: Eine fiktive Person kann man im wahrsten Sinn des Wortes entdecken. Von einer Person, die es wirklich gab, haben alle schon vor Betreten des Kinosaals ein Bild. Das heißt, das Bild, das man anbietet, muss sehr schnell über das andere Bild obsiegen. Das war wirklich eine der Gefahren des Films.
STANDARD: In Ihren anderen Filmen steht "das Volk" im Zentrum, hier ist es die Spitze der Macht - weshalb hat Sie das gerade zum jetzigen Zeitpunkt interessiert?