Der Boss und sein Künstler: Kornelia Kilga und Yosi Wanunu betreiben seit 1997 in Wien die Theatergruppe toxic dreams.

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Wien - Das Off-Theater ist nicht die Jugendmannschaft der institutionalisierten Häuser, sondern einfach anderes, eigenständiges, also freies Theater. Dem Schülerliga-Missverständnis folgte viel zu lange Zeit auch die Politik und ließ jene künstlerische Qualität brachliegen, von der die eigentlich neuen Impulse auszugehen pflegen. Nicht selten zieht es Künstler von den Staatsbetrieben wieder in freie Produktionszusammenhänge hinaus. Jüngst wechselte bekanntlich auch ein Peter Zadek in die Off-Szene.

Berührungsängste

In Amerika ist das keine Sache, meint Yosi Wanunu von toxic dreams. "Da wechselt ein Willem Defoe direkt von Speed 2 in die Wooster Group", und es ist ganz normal. Mainstreamkino und Experimentaltheater haben da keine Berührungsängste. "In Amerika ist die Verbindung von Hoch- und Popkultur keine vertikal hierarchische wie hier in Österreich", meint seine Co-Chefin Kornelia Kilga. 1997 haben die beiden mit toxic dreams eine freie Gruppe gegründet, die derzeit zu den profilreichsten der Szene gehört und im Zuge der Wiener Theaterreform einen Vierjahresvertrag bekam.

Reform

Trotz dieses eigenen Vorteils (erstmals stand dem Team für die aktuelle Produktion De Lady in de Tutti Frutti Hat, Premiere am Mittwochabend im Künstlerhaustheater, ein Probenraum zur Verfügung) sind beide Theaterleiter mit der Theaterreform (noch) nicht zufrieden: "Die Reform blieb stecken, seit die Gelder verteilt sind", meint Wanunu. "Die Reform hätte viel radikaler sein sollen. Es gibt einfach zu viele Freie! Und dabei vor allem zu viele, die schlechtes Volkstheater imitieren."

Koproduktionshaus?

Zuallererst beklagt der in Israel geborene Regisseur, der u. a. bei Richard Foreman in New York arbeitete, das Fehlen eines Koproduktionshauses, wie es der Tanzbereich seit Gründung des Tanzquartiers Wien im Museumsquartier hat. So ein Haus sei zur internationalen Vernetzung und längerfristigen Qualitätssicherung unabdingbar.

Kilga: "Und zwar mit einem deutlichen Profil! Man kann nun einmal nicht alle, die bei der MA 7 auf der Liste stehen, versorgen". Wien brauche eine gute Adresse für freie (auch internationale) Gruppen. Kilga: "Wenn ich im Ausland Gastspiele für toxic dreams anleiere und sage, wir sind a) eine freie Gruppe und b) aus Wien, dann höre ich am anderen Ende des Telefons das große Gähnen!" Dennoch konnten toxic dreams ihre Polit-Sitcom "Die Milosevics" am Berliner Hebbel-Theater (Hebbel am Ufer) zeigen. Seit einigen Jahren untersucht toxic dreams Unterhaltungsformate. Die letzte zu diesem Zyklus zählende Produktion ist ein Musical und ganz dem brasilianischen Hollywoodstar der Dreißiger- und Vierzigerjahre, Carmen Miranda, gewidmet. Berühmt wurde sie durch ihr Tropische-Früchte-Outfit.

"Unterhaltungsshow"

Bisher war es das Anliegen von toxic dreams, Entertainmentstrukturen zu überprüfen, indem sie an fremde Inhalte (z. B. Shakespeare-Stücke) angelegt werden. Erstmals wird nun eine "pure" Unterhaltungsshow geboten.

Wanunu lieh sich den Titel des Abends - De Lady In De Tutti Frutti Hat (Original: The Lady In The Tutti Frutti Hat) - aus einem Film des von ihm hochverehrten Regisseurs und Choreografen Busby Berkeley (1895-1976), einer Art Oskar Schlemmer Hollywoods, der für seine geometrischen Figurengroßarrangements verehrt wird.

Carmen Miranda war einmal die bestverdienende Hollywoodschauspielerin "und mindestens so berühmt wie Betty Grable", wirft Wanunu ein. Sie war das Symbol des filmischen Tropikalismus. Eine (u. a. kinematografische) Stilrichtung, die brasilianischen Exotismus (idealisierend verfälscht) importierte.

Urfertigkeiten

Wanunu liebt das Musical, vor allem der Theatralität wegen, die sich dieses Genre gestattet, während es sich das Sprechtheater immer mehr absprach. "Das Theater hat Nein gesagt zu Theatralität, Nein zu Fertigkeiten und linearen Geschichten", so Wanunu. "Dieser dekonstruktivistische Ansatz war zum jeweiligen Zeitpunkt für die weitere Entwicklung sehr wichtig. Aber wir laufen Gefahr, diese Urfertigkeiten (Sprechen, Tanzen, Singen) zu verlieren. Und sie fehlen der freien Szene sehr oft."

An dieser Rückeroberung von Theatralität arbeiten toxic dreams, bevor sie sich in den nächsten Jahren mit historischen Experimentalformen befassen: Was wurde aus Grotowski und Barba? (DER STANDARD, Printausgabe, 8.2.2006)