Wie sieht der Stammbaum einer Wissenschaft aus, bei der jeder seine eigene Version der Geschichte vertritt? Psychoanalytiker sind bekanntlich zerstritten und zerfallen in rivalisierende Schulen. Dabei ist die Psychoanalyse (PsA) eine Psychologie des mit sich selbst im Konflikt entzweiten Menschen. Alles Bemühen zielt darauf, mit dieser gespaltenen inneren Wirklichkeit umgehen zu lernen. Warum, bitte, sollen dann die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Lehre unüberwindlich sein? Vielleicht, weil die Forderung nach einer "psychoanalytischen Identität" oder der Synopsis der verschiedenen Richtungen die Dynamik der Innovationen behindert.

Es gab keinen heroischen Anfang der PsA. Bereits Freud war der Urheber einer mächtigen Synthese, bei der kaum nachzuvollziehen ist, was von außen kam und was sein persönlicher Beitrag war. Seine unmittelbaren Lehrmeister waren Brücke, Meynert und Exner; dann Benedikt und Breuer. Der einzige Philosoph, dessen Vorlesungen Freud besuchte, war Brentano.

Die lebenslange Hinneigung des Gründers zu dualistischen Ideen, seine Auffassung vom Seelenleben, das von Polaritäten beherrscht wird, war eine typisch romantische Denkungsart. Ebenso der Hang zu Urphänomenen wie dem Ödipuskomplex, der für die Menschheit postuliert wurde. Freud lehnte die Philosophie ab und er brach mit der Schuldmedizin. Der jüdische Wiener war kein aufrührerischer Feuerkopf wie Nietzsche, sondern Arzt mit einer naturwissenschaftlich angelehnten Theoriebildung.

1896 nannte Freud sein System "Psychoanalyse", um es von Janets "psychologischer Analyse" zu unterscheiden. Seine ersten Anhänger waren Kahane, Reitler, Adler und Stekel; sie bildeten im Herbst 1902 den Anfang der Bewegung. Bald verboten die Wiener Behörden nicht ärztlichen Analytikern in Freuds Ambulanz zu arbeiten. Im Juni 1911 verließ Adler Freud, im Oktober 1912 ging Steckel, im September 1913 zerbracht die Beziehung mit Jung, und die Schweizer Gruppe zerfiel.

Seither bietet sich uns das Bild einer in Revisionen und Häresien zerfallenen Lehre. Das trügt. Der intellektuelle Coup des Freudianismus bestand gerade darin, den Ausgangspunkt im Denken des Anderen stets als eine sinnvolle Alternative zur eigenen Betrachtungsweise zu begreifen. Das gilt auch für die konkurrierenden Schulen selbst. Freuds Wahrheit war eine subjektive. Was heute als seine Lehre dasteht, hat er überwiegend aus der Erfahrung an der eigenen Person geschöpft. Das Besondere daran war diese Sensibilität für das Individuelle. Freud stand damit in einer langen Reihe subjektiv-introspektiver Seelenforscher von Augustinus über Luther bis Pestalozzi und Kierkegaard.

Jede Theorie korrespondiert mit der persönlichen Vorstellungswelt des Autors, mit seinen eigenen Lebenskonflikten und seinem Ringen mit dem Unbewussten. So hat Freud zum Beispiel die Vorstellung des Todestriebs entwickelt, nachdem ihm 1923 die Diagnose seines Gaumenkrebses übermittelt worden war. In einem Briefwechsel mit Georg Groddek schreibt Freud: "Wer erkennt, dass Übertragung und Widerstand die Drehpunkte der Behandlung sind, der gehört nun einmal rettungslos zum wilden Heer." Diese saloppe Auskunft wird nie alle Skepsis zerstreuen: Lässt sich das aus einem Beobachtungsprozess stammende subjektive Wissen tatsächlich als Heilstradition optimieren? Wie vertragen sich metapsychologische Spekulation und therapeutisches Verfahren?

Freud hatte fraglos ein naturwissenschaftliches Forscher-Ideal, seine Perspektive war szientistisch, materialistisch und triebmechanisch. Er beanspruchte aber keine Wahrheit im Sinn einer auratisierten Objektivität. Die Analyse fordert eine aspektive Betrachtung, das bedeutet, sie reflektiert den Standpunkt des Betrachters immer mit. Kritiker versuchen, Freud bis heute daraus einen Strick zu drehen, und werfen ihm vor, seine Berufung zum Schriftsteller kabbalistisch als Mediziner getarnt zu haben. Richtig daran ist lediglich, dass auch der große Desillusionierer des Fin de Siècle seine blinden Flecken hatte. Freud glaubte, die Gesellschaft sei notwendigerweise autoritär und die Familie patriarchalisch. Er scheint die Unterlegenheit der Frau für selbstverständlich gehalten zu haben.

Ohne Frage ist heute eine Basis-Identifikation mit Freud notwendig, um zum "wilden Heer" gezählt zu werden. Es gibt ohnehin immer mehr nicht an Schulen gebundene Kliniker, Selbstdenker und Philosophen der PsA. Das Spaltungspotenzial steigt quasi mit jedem neuen Freud-Leser. Aus diesem Grund kennt die Geschichte der Psychoanalyse in der Moderne keine Parallele. (Wolfgang Koch/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21./22. 1. 2006)