Gletscherseen und windgepeitschte Steppenlandschaft sind die Protagonisten in Patagonien

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Lange, schmale Schatten fallen über die Estancia Huyliche, tasten mit schwarzen Fingern über die Terrasse, grapschen von dort nach den leuchtenden Dahlien. Lang und schmal sind auch die Bäume, denen der milde Abend die leptosomen Schatten verdankt. Pappeln haben die ersten Farmer der Estancia am Rande des Städtchens Calafate gepflanzt, silberhäutige Tänzer im Wind, so wie überall in Patagonien, wo vor allem eines zählt: sich vor dem Blasius zu schützen, der die Vögel rückwärts fliegen lässt und den Steppengräsern mit 200 Sachen graugrüne Dauerwellen legt.

Patagonien ist die Heimat der Winde, doch auf die Pappeln ist Verlass. In Reih und Glied stehen sie auch um dieses Gehöft zusammen. Eine fest verwurzelte Armee, die das Raunen der Blätter verschwörerisch gegen die Launen des patagonischen Himmels erhebt. Lockerer geben sich da die Arbeiter der Farm, die am Rande des Gartens das rostige Gerippe einer Hollywoodschaukel reiten. Zwei, drei Hunde sehen ihnen dabei gähnend zu. Auch der blecherne Wetterhahn über dem Lattenzaun dreht quietschend den Kopf hin und her, blickt einmal aufs satte Lila des Lago Argentino hinunter, dann auf die malerische Abendröte des vom Sommer erhitzen Landes. Staub, Stachelwerk, knochenfarbene Sträucher prägen es. Im Hintergrund leuchtet die majestätische Kette der Anden, eine saubere, weiße Zudecke am Horizont.

Chronische Wehwechen

Der Tratsch vor der Veranda dreht sich freilich um andere Dinge. Über die chronischen Wehwehchen des zerbeulten Dodge Cars ereifert man sich an diesem Abend. Und über den jüngsten Coup der Benettons. Schon wieder haben sich die Fratelli Luciano und Carlo eine argentinische Schaffarm geschnappt. 800.000 Hektar machen die Mailänder Textilkönige längst zu den größten Landlords zwischen Feuerland und dem Rio Colorado, Patagoniens nördlichem Grenzfluss. Das Land garantiert den Italienern die weichsten Merino-Vliese der Welt - genial für allerfeinste Färbung - und beschert auch Patagonien neue Moden. Farmmoden. Hundert mal vierzig Kilometer misst allein "La Coronel", der größte ihrer Besitze, ein Hightechbetrieb, der statt Viehgatter Erkennungskodes einführte und aus dem alten Patagonien ein Stück "United Wool of Benetton" macht. Ebenfalls im Kaufrausch: die Gringos aus Hollywood. Sylvester Stallone und Michael Douglas reiten an eigenen Estancias vor, ebenso wie das Dollar-Schwergewicht George Soros und Senor CNN alias Ted Turner.

Schuld am Ausverkauf ist das Siechtum der Schafwirtschaft. Die Überweidung der Böden, der Verfall der Wollpreise und dann auch noch der Ausbruch des Hudson-Vulkans, der die Gegend mit klebriger Asche bedeckte, waren in Summe gleich mehrere Katastrophen zu viel. Für hunderte Gehöfte bedeuten sie das endgültige Aus.

Auf Reserve-Gauche machen

Der Niedergang der Estancias ist zugleich auch der Grund, warum Touristen jetzt den Männern beim abendlichen Tratsch zuhören können. Und warum man vor einem verschnörkelten Eisenofen der schwedischen Firma Husqvarna die durchnässten Wandersocken trocknen und dabei auf Reserve-Gaucho machen kann. Im Falle der Estancia Huyliche, die sich wie viele andere Gehöfte dem Tourismus geöffnet hat, handelt es sich freilich um eine Art Stadtbauernhof.

Nur wenige Pferdeminuten unterhalb der weiß lackierten Zäune der lauschigen Ranch erstreckt sich El Calafate, eines der touristischen Zentren Patagoniens und Pforte zum Parque Nacional Los Glaciares. Blitzblau leuchtet das eisige Wasser des Lago Argentino, neben dem sich Calafate von Jahr zu Jahr ein wenig stärker in die Länge zieht, tagsüber herauf.

Trekker aus aller Welt

Unter den schattigen Alleen, in den Cafés und Cervecerías tummeln sich Trekker aus aller Welt. Das Städtchen gilt als Drehscheibe eines jeden Patagonien-Trips. Doch es lohnt sich auch, nur auf einen Drink vorbeizukommen. Vor allem, wenn dieser so serviert wird, wie Bernardo das tut: mit uraltem Eis, das er in kleinen Brocken aus dem nahen Moreno Gletscher kratzt. "Whiskey on the glacier-rocks" ist der malzige Abschieds-Gag, den der Guide seinen Gästen am Ende der Minitrekking-Tour serviert - gemeinsam mit einer kleinen Show in Sachen Eisklettern.

Der Platz dafür ist gut gewählt. Es ist die Zungenspitze des längsten Eisfelds der Welt. Dreißig Kilometer weit reicht der spektakuläre Moreno-Gletscher hier in das Gebirgsmassiv der Anden hinein, als siebzig Meter hohe Steilküste fällt er nach vorn hin ab. Blau und hellgrün leuchten die "Klippen" an dieser Stelle, und die enorme Spannung lässt die Eismassen krachen und knurren.

Wenn der Riese kalbt und hausgroße Blöcke in den Eiskanal stürzen, kann man es kilometerweit hören. Von Zeit zu Zeit bröselt durch den Druck der seitlich aufgestauten Schmelzwassermassen die komplette Vorderfront weg. Im März 2004 war es wieder einmal so weit - das erste Mal seit sechzehn Jahren konnten TV-Stationen in aller Welt das einzigartige Spektakel übertragen: gewaltige Flutwellen, ein schäumendes Inferno kollabierender Eismassen, ohrenbetäubendes Getöse flimmerte über die Bildschirme.

Coverstar Patagoniens

Argentiniens Perito-Moreno-Gletscher ist der erste Coverstar Patagoniens. Nur wenige Autostunden weiter nördlich befindet sich der ewige Rivale: das Fitz-Roy-Massiv. Verlässt man El Calafate in dieser Richtung, erkennt man die spitzen Felsnadeln schon von Weitem. Die schärfsten Fangzähne der patagonischen Anden ragen da auf, vereiste Granitzinnen, die als Olymp aller Freeclimber gelten.

Wo die Berge beginnen, endet zugleich auch jenes Patagonien, das man weiter östlich ein, zwei Tage durchfahren kann - oder aber ein einsames Leben lang. Wild und maßlos erstreckt es sich bis zum Horizont. Ein welliger, uferloser Ozean aus

Gräsern und Wind, über den sich unablässig zerfetzte Zuckerwatte-Wolken schieben. Tankstellen werden hier zu Oasen, und oft sind diese über hundert Kilometer voneinander entfernt.

Sprödes dominiert

Gemächlich durchziehen türkisgrüne Flüsse das Land, begleitet vom hellen Grün der ufernahen Weiden. Doch zumeist dominiert Spröderes: die langen Staubfontänen, die die wenigen Fahrzeuge wie Schleier hinter sich herziehen. Das Schlagen des Schotters auf holperigen Pisten. Und die dünnen, knochigen Beine der Sträuße vor dem Kühlergrill.

Die durchgeknallte Geschichte der Revolverhelden Butch Cassidy und Sundance Kid, die einst von Ohio bis ins südliche Patagonien ritten, nur um im Kaff Rio Gallegos die Bank auszurauben, und am Absatz kehrtmachten, um wieder zurückzureiten, passt auch heute noch bestens hierher in ein wildes, archaisches Land.

Ideal für Roadmovies

Ideal für Roadmovies und kleine Fluchten ist Patagonien noch heute. Doch auch ein zärtliches, offenes Land liegt hier unter der Weite des Himmel bloß. Die Freiheit der Pferde im offenen Galopp ist Lektion genug. Am Ufer des Rio La Leona, zwischen Calafate und dem Fitz Roy, preschen sie neben einem dahin.

Beim Lago Viedma scheiden sich die Wege. Ein Abzweiger führt an die einsam gelegene Estancia Helsingfors, ein Musterexil skandinavischer Pioniere. Nördlich des Gletschersees führt die Piste hingegen nach El Chalten, Argentiniens jüngster Stadt. Erst 1985 wurde der Ort am Fuße des Fitz Roy eilig zusammengezimmert, bevor sich Chile die Gegend unter den Nagel reißen konnte. Leichter als der genaue Grenzverlauf lassen sich die Wanderziele der Trekker-Hochburg definieren.

Laguna de los Tres heißt das populärste von ihnen, im Andenken an die drei Franzosen, denen 1952 die Erstbesteigung gelang. Pastellgrünes Schmelzwasser, dramatische Bergkulissen und treibende Eisblöcke erwarten einen freilich auch jenseits der chilenisch-argentinischen Grenze, und als Draufgabe ganze Herden von Guanacos, die sich im feuchteren Klima des hier gelegenen Torre-del-Paine-Nationalparks besonders wohl fühlen.

Aktuelle Experimente, wie sie die Züchter Nordchiles anstellen, die ihre Artgenossen mit den robusteren Lamas zu Lamanacos kreuzen, bleiben ihnen hier jedenfalls erspart. Ähnlich unbehelligt bleiben Nandus, Magellangänse, Flamingos und die übrige Paines-Urnatur. Kenner zählen den wildromantischen Naturpark zu den schönsten Flecken des amerikanischen Doppelkontinents.

Jede Menge Stress

Das weiß auch Ranger Jorge, der im Moment allerdings jede Menge Stress hat. Die Singapur-Crew ist nämlich hier. Samt US-Regisseur, Kosmetikbus, Akkugeräten und Kamerakran. Gedreht wird ein Werbefilm, der keine Zigarettenwerbung sein soll. Einen spektakulären Platz haben die Location-Scouts jedenfalls ausgemacht: Donnernd stürzt das Wasser des Salto Grande in den Lago Pehoé.

An dieser Seite der Anden ist Trockenheit kein Thema, dafür sorgen die dunkelgrau geblähten Pazifikwolken zu jeder Zeit. Doch perfekt ist die unwirtliche Gegend auch so. Mehr noch: Sie ist einzigartig. Gäbe es eine Medaille für herausragende Eiszeit-Leistungen, die hier schmirgelnden Gletscher hätten sie als Allererste verdient: Ein halbes Dutzend Seen drängt sich vor schroffer Gebirgskulisse. Pie-nee tauften die Indianer die Gewässer: hellblau. Reines Understatement!

Das Pastell des Pehoé-See schlägt alle, und die Berge stehen dem um nichts nach. Selbst zweifärbig ragen sie hier auf: Die "Hörner" des Cuernos del Paine lassen Schichten hellen Granits und schwarzen Schiefers malerisch nach oben stehen. Kein Wunder, dass mit dem "Explora en Patagonia" eines der ersten Designer-Hotels Chiles in die Landschaft gesetzt wurde - allein der Blick vom Open-Air-Whirlpool ist die Dollars wert. (Der Standard/rondo/13/1/2006)