Rund um die Entwicklung des Gedankengebäudes seiner Psychoanalyse betrieb Sigmund Freud auch eine intensive Politik ihrer Verbreitung. Das Zentrum dieser Politik war die Anhängerschaft, die sich in den "Mittwochrunden" in der Berggasse 19 in geschlossener Gesellschaft zusammenfanden. Was in den Augen des mächtigen Über-Ichs keinen Gefallen fand, führte zu spektakulären Spaltungen und Gründungen neuer Schulen, die sich häufig in ähnlichen Zirkeln weiterentwickelten und wiederum neue Ableger produzierten. Ob in direktem Widerspruch oder "nur" in Differenz zu einzelnen Aspekten der Psychoanalyse und ihrer Behandlungsmethode gegründet: Praktisch alle heutigen Therapieformen positionieren sich in Relation zur "orthodoxen" Psychoanalyse, die zahlenmäßig nur noch eine kleine Rolle einnimmt.Zu den vielen Gründungen auf den Spuren der Psychoanalyse gehören unter anderem die Analytische Psychologie nach C. G. Jung, die von Alfred Adler (dem wir den Begriff des "Minderwertigkeitskomplexes" verdanken) begründete Individualpsychologie, die von Viktor Frankl entwickelte "Dritte Wiener Schule der Psychotherapie" (die Existenz- und Logotherapie), die Gestalttherapie nach Fritz und Laura Perls sowie Paul Goodman, die von Carl Rogers begründete Gesprächstherapie, Jacob Morenos Psychodrama, die vom Freud-Schüler Wilhelm Reich gegründete Körperarbeit (die wiederum ihrerseits zahlreiche Richtungen hervorbrachte) oder die systemische Familientherapie. Die Liste ist bei Weitem nicht vollständig; nach dem österreichischen Psychotherapiegesetz sind derzeit 20 Verfahren anerkannt. Arzt zu sein ist, ganz nach Freuds Auffassung, keine Voraussetzung um Psychotherapeut zu werden. (spu/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31. 12. 2005)